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    Arzheimer, Kai. "Politischer Extremismus." Einstellungs- und Verhaltensforschung. Handbuch für Wissenschaft und Studium. Eds. Faas, Thorsten, Oscar W. Gabriel, and Jürgen Maier. Baden-Baden: Nomos, 2019. .
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Politischer Extremismus

1. Einleitung

“Politischer Extremismus” ist eines der wichtigsten und ältesten, aber auch umstrittensten Konzepte in der Einstellungsforschung. Die mit dem Begriff verbundenen Kontroversen lassen sich vor allem auf zwei Ursachen zurückführen. Zum einen bezeichnet der Begriff politischer Extremismus in verschiedenen Studien unterschiedliche Gegenstände, so dass in der Vergangenheit häufig von einer “babylonischen Sprachverwirrung” (Backes 1989: 75) die Rede war oder sogar daran gezweifelt wurde, dass mangels einer “exakte[n] Wissenschaftssprache” in diesem Forschungsfeld überhaupt ein wissenschaftlicher Fortschritt möglich sei (Druwe und Mantino 1996: 78). Zum anderen markiert das Adjektiv “extremistisch” den Bereich dessen, was in einer Demokratie als nicht mehr akzeptabel gilt, und gerät deshalb leicht zum politischen Kampfbegriff.Entwicklung der Forschung

Die Geschichte der Extremismusforschung läßt sich grob in zwei Stränge unterteilen. Extremismusforschung ist zum einen Bestandteil der politischen Ideengeschichte. Insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg bemühte man sich hier, Ideologien und Ideologiefragmente zu identifizieren, die der liberalen Demokratie entgegenstehen. Besonders hervorzuheben ist hier in Deutschland die Arbeit Kurt Sontheimers

Seit den 1980er Jahren wurde diese Diskussion dann maßgeblich von Eckhard Jesse und seinem Schüler Uwe Backes geprägt. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit extremistischen Einstellungen reicht noch weiter, nämlich bis in die 1930er Jahre zurück. Dabei lag der Schwerpunkt der internationalen Debatte zunächst auf tiefenspychologischen, dann auf kognitions- und sozialpsychologischen Ansätzen, die bis heute das Feld dominieren.

In mehr als acht Jahrzehnten wurde in den verschiedenen Disziplinen, die auf diesem Gebiet arbeiten – Sozial- und Individualpsychologie, politische Psychologie, Politikwissenschaft, (politische) Soziologie und Geschichtswissenschaft – eine große Zahl von Konzepten entwickelt, die eng miteinander zusammenhängen und sich teilweise überschneiden. Im nächsten Unterabschnitt werden die wichtigsten dieser Konzepte vorgestellt und voneinander abgegrenzt. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den Extremismuskonzeptionen von Lipset und Raab bwz. Backes und Jesse, die die deutsche Debatte entscheidend geprägt haben. Im Anschluss daran werden die in Deutschland gängigen Operationalisierungen und die verfügbaren Datenquellen vorgestellt. Der letzte Unterabschnitt beschäftigt sich dann mit der Verteilung und politischen Relevanz extremistischer Einstellungen.

2. Konzepte

2.1 Extremismus

2.1.1 Der Extremismusbegriff von Lipset und Raab

Die Geschichte des Wortes “Extremismus” als Sammelbegriff für die politischen Kräfte am Rande des ideologischen Spektrums reicht in den den USA und in Großbritannien bis in 19. Jahrhundert zurück (Backes und Jesse 1996: 42). Prägend für die heutige Verwendung des Begriffs in den Sozialwissenschaften waren aber die Arbeiten Seymour Martin Lipsets. Lipset hat sich seit den 1950er Jahren mit den Bedingungen für die Entstehung und Stabilität liberaler Demokratien beschäftigt und sich dabei auch mit den Gegnern der Demokratie auseinandergesetzt. Er definiert Extremismus im Wesentlichen als Anti-Pluralismus, d.h. als eine “Schließung des politischen Marktes”. Besonders deutlich zeigt sich dies in seiner gemeinsam mit Earl Raab verfassten und inzwischen klassischen Studie zum historischen Rechtsextremismus in den USA.

“Extremism is antipluralism or – to use an only slightly less awkward term – monism. And the operational heart of extremism is the repression of difference and dissent, the closing down of the market place of ideas. More precisely, the operational essence of extremism, of monism, is the tendency to treat cleavage and ambivalence as illegitimate” (Lipset und Raab 1971: 6).

Nach Lipsets Auffassung können in diesem Sinne extremistische Auffassung grundsätzlich mit jeder politischen Position auf einer Links-Rechts-Dimension verbunden werden, in der Lipset und Raab wirtschafts- und gesellschaftspolitische Positionen zusammenfassen (Lipset und Raab 1971: 19). An anderer Stelle spricht Lipset deshalb auch von einem “Extremismus der Mitte” (Lipset 1960: Kapitel 5). Allerdings gehen Lipset und Raab davon aus, dass Anhänger randständiger politischer Positionen häufiger politischen Frustrationserlebnissen ausgesetzt sind als Personen, deren Überzeugungen sich näher an der Mitte des politischen Spektrums bewegen. Empirisch sei deshalb ein Zusammenhang zwischen extremen ideologischen Präferenzen und extremistischen, d.h. anti-pluralistischen Einstellungen zu erwarten (Lipset und Raab 1971: 20).

2.1.2 Der Extremismusbegriff von Backes und Jesse
Der Ansatz von Backes und Jesse (Backes 1989; Backes und Jesse 1996;) orientiert sich einerseits stark am deutschen Grundgesetz und der Vorstellung einer “streitbaren Demokratie” (grundlegend: Loewenstein 1937a; 1937b), andererseits greift er Lipsets Überlegungen wieder auf, wandelt diese aber in mehrfacher Weise ab. So gehen Backes und Jesse erstens ähnlich wie Lipset von einer eindimensionalen Links-Rechts-Skala aus, die sie aber in spezifischer Weise interpretieren: Für sie liegen am rechten Pol politische Konzepte, die das “Prinzip menschlicher Fundamentalgleichheit” negieren, am linken Pol hingegen Ideen, die das Ideal der Gleichheit soweit ausdehnen, dass es “die Idee der individuellen Freiheit überlagert” (Backes und Jesse 1996: 45). Zweitens erweitern sie den bei Lipset vor allem prozedural zu verstehenden Begriff des Extremismus zu einer generellen Ablehnung des (liberal)demokratischen Verfassungsstaates und seiner Institutionen.

Abbildung Hufeisenschema - politischer Extremismus
Abbildung 1: Das Hufeisen-Schema

Aus der Kombination beider Überlegungen ergibt sich drittens zwingend, dass Extremismus ausschließlich an den Rändern des politischen Spektrums auftreten kann, dort aber letztlich unvermeidlich ist. Diesen Zusammenhang illustrieren die Autoren mit dem bekannten “Hufeisen-Schema” (Abbildung 1), das in der empirischen Realität allerdings keine Entsprechung findet (Arzheimer 2006).

Im Kern bezeichnet Extremismus bei Backes und Jesse alle Ideen, Einstellungen, Verhaltensweisen, Organisationen und Einzelpersonen, die sich gegen die liberale Demokratie richten. Damit ist der Begriff auch für solche Extremismen nutzbar, die sich nicht ohne weiteres in das Links-Rechts-Schema einordnen lassen (Islamismus und verschiedene Spielarten des Anarchismus).

Der Extremismusbegriff nach Backes und Jesse entspricht weitgehend dem “Begriffsverständnis der Verfassungsschutzbehörden” (Jaschke 1994: 29), die zwischen gerade noch erlaubtem Radikalismus einerseits und verfassungsfeindlichem Extremismus andererseits unterscheiden. An diesem quasi-juristischen Begriffsverständnis, der (weitgehenden) Gleichsetzung von Links- und Rechtsextremismus sowie an der klar normativen Ausrichtung seiner beiden Hauptprotagonisten hat sich in der Vergangenheit viel Kritik entzündet. Nichtsdestotrotz hat der Extremismus-Begriff von Backes und Jesse aufgrund seiner inhaltlichen Klarheit mittlerweile auch für die empirische Forschung zentrale Bedeutung erlangt und wird nun auch in der internationalen Literatur diskutiert (z.B. Mudde 2010: 1168).

2.2 Verwandte Konzepte

2.2.1 Radikalismus

Der Begriff des politischen Radikalismus hat eine lange und komplizierte Geschichte, wird aber seit rund 100 Jahren in erster Linie zur Bezeichnung von Positionen an den Rändern des Links-Rechts-Spektrums verwendet (Backes 1989: 64) und unterscheidet sich insofern deutlich von der oben vorgestellten Definition von Extremismus nach Backes und Jesse.

Dies war jedoch nicht immer so. Einer der wichtigsten deutschsprachigen Beiträge zu diesem Thema, die “Theorie des Rechtsradikalismus in westlichen Industriegesellschaften” (Scheuch und Klingemann 1967), verwendet beide Begriffe weitgehend synonym, während eine der ersten Studien, die versuchte, den Effekt extremistischer bzw. radikaler Einstellungen auf das Wahlverhalten zu quantifizieren (Klingemann und Pappi 1972), die (aus heutiger Sicht wenig überzeugende) Unterscheidung zwischen einem “Extremismus der Ziele” und einem “Radikalismus der Mittel” trifft.

Auf rein konzeptueller Ebene blieben beide Arbeiten aber letztlich folgenlos. Schon Mitte der 1990er Jahre konstatierte Jaschke, dass es “praktisch keine” Versuche mehr gebe, “den Begriff [des Radikalismus] wissenschaftlich weiterzuentwickeln” (Jaschke 1994: 28).

In der internationalen englischsprachigen Forschungsliteratur ist “radicalism” hingegen immer noch der am weitesten verbreitete Begriff für die hier betrachteten Phänomene. In der Regel wird damit schlicht eine Extremposition auf dem Links-Rechts-Kontinuum oder einer anderen Einstellungskala bezeichnet (siehe zuletzt z.B. Jou 2016; Visser u. a. 2014). Einen viel beachteten Versuch, das Konzept inhaltlich weiter zu entwickeln, hat Cas Mudde (2007) vorgelegt. Dabei ist allerdings zu beachten, dass Mudde sich auf die rechte Hälfte des politischen Spektrums beschränkt und sich dabei vor allem an Parteien bzw. Ideologien orientiert. Die Übertragung auf die Einstellungsebene liegt jedoch nahe und ist in der von ihm verwendeten Terminologie bereits angelegt.

Für Mudde unterscheiden sich die Parteien am rechten Rand (“far right”) von den konservativen und christdemokratischen Parteien durch eine “nativistische” Ideologie, derzufolge Staaten möglichst nur von Angehörigen der nativen Bevölkerung bewohnt werden sollten. Fremde Ideen und Personen werden als Gefahr betrachtet. Eine nativistische Ideologie kombiniert dementsprechend Nationalismus und Xenophobie (Mudde 2007, 19). Von rechtsradikalen (“radical right”) Parteien spricht Mudde dann, wenn zum Nativismus ein weiteres Element hinzutritt, nämlich der Autoritarismus. Muddes Verständnis von Autoritarismus orientiert sich an Bob Altemeyer (1981), geht aber insofern über dessen Definition hinaus, als Mudde den Begriff nicht auf die bestehende Ordnung beschränkt (Mudde 2007: 21–23), da diese von modernen rechtsradikalen Parteien häufig attackiert wird. Vielmehr bezeichnet Mudde mit “autoritär” ein Haltung, die sich im Namen einer homogenen ethnischen Gemeinschaft gegen die fundamentalen Werte der liberalen Demokratie richtet, ohne notwendigerweise die demokratischen Verfahren abschaffen zu wollen (Mudde 2007: 26). Grundsätzlich erfasst eine solche Definition von Radikalismus als “illiberale Demokratie” auch linksradikale Überzeugungen (March und Mudde 2005: 25) und nähert sich damit an das Begriffsverständnis von Backes und Jesse an.1

2.2.2 Dogmatismus/Closed-Mindedness

Der Gedanke, dass hinter extremistischen Überzeugungen verschiedenster Couleur ein gemeinsamer „geschlossener” bzw. „dogmatischer” Denkstil stehen könnte, ist bereits in der klassischen Autoritarismus-Studie von Adorno et al. (1950) angelegt und wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von den politischen Psychologen Hans Jürgen Eysenck (1954) und Milton Rokeach (1960) aufgegriffen und ausgearbeitet. Charakteristisch für diesen Ansatz ist die klare kognitionspsychologische Ausrichtung: Als dogmatisch bezeichnet Rokeach solche Personen, die nur in geringem Umfang bereit bzw. in der Lage sind, neue politische Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten. Statt dessen orientieren sie sich an Stereotypen, Traditionen, Normen und Autoritäten (Rokeach 1960: 57–58). Zur Messung der kognitiven “Geschlossenheit” (closed mindedness) einer Person entwickelte Rokeach dementsprechend eine Reihe von Indikatoren, die möglichst unabhängig von konkreten politischen Inhalten sein sollen.

In Deutschland wurde dieser Ansatz vor allem von Schumann (1986; 2001; Schumann und Schoen 2005) verfolgt, der ein eigenes Instrument zur Messung der “Affinität zu stabilen kognitiven Orientierungen” (ASKO) entwickelt hat und den Einfluss dieses und anderer Persönlichkeitsmerkmale auf extremistische Einstellungen untersucht. Auch in der internationalen Forschungsliteratur wurde die Frage nach dem Zusammenhang zwischen einem dogmatischen kognitivem Stil und extremistischen oder radikalen Einstellungen immer wieder aufgegriffen. Die breit angelegte Meta-Analyse von Van Hiel, Onraet, and De Pauw (2010) ergab dabei nur einen schwachen Zusammenhang zwischen kognitiver Rigidität einerseits und nicht näher spezifizierten sozio-kulturellen Einstellungen, die von den Autoren als “right-wing” betrachtet wurden, andererseits. Ebenso wie in einigen anderen neueren Studien (Hodson und Busseri 2012; Onraet u. a. 2015) deuten die Ergebnisse aber darauf hin, dass geringere kognitive Fähigkeiten mit Vorurteilen gegenüber Minderheiten und eventuell auch mit einer Vielzahl “rechter” Einstellungen verknüpft sind. Aus offensichtlichen Gründen sollten diese Befunde zunächst mit einer gewissen Skepsis betrachtet werden.

2.2.3 (Rechts-)Autoritarismus

Der Begriff des Autoritarismus zählt zu den wenigen Konzepten in den Sozialwissenschaften, die auch in der breiten Öffentlichkeit große Resonanz gefunden haben. Obwohl seit den 1930er Jahren eine ganze Reihe teils prominenter Autoren mit und an dem Begriff gearbeitet haben (Oesterreich 1996: 28–44), ist einzig die nach ihrem Entstehungsort als “Berkeley-Studie” bezeichnete Arbeit von Adorno et al. (1950) maßgeblich für diese breite Resonanz verantwortlich.

Adorno et al. (1950: 288) betrachten Autoritarismus als ein komplexes “Syndrom” auf der Ebene der individuellen Persönlichkeit, das aus neun mit Hilfe der “F-Skala” messbaren Unterkonzepten besteht. Konzeptuell handelt es sich beim Autoritarismus nach Adorno et al. (1950) letztlich um eine Persönlichkeitsstörung, die auf die familiäre Sozialisation und hier vor allem auf im Sinne der klassischen Psychoanalyse interpretierte frühkindlichen Erlebnisse zurückgeht und ihre Träger für extremistische Ideologie anfällig machen soll.

Obwohl die in der Studie verwendete F-Skala für einige Zeit “zum Synonym für Autoritarismus” (Oesterreich 1996: 51) schlechthin wurde, setzte bereits kurz nach dem Erscheinen der Berkeley-Studie die Kritik an deren konzeptuellen und methodologischen Unzulänglichkeiten ein (Oesterreich 1996: 51–64). Insbesondere die kognitionspsychologische Neuausrichtung der Forschung seit den 1960er Jahren speiste sich aus dem Unbehagen an den psychoanalytischen Grundlagen der Berkeley-Studie.

Einen viel beachteten Versuch, das Konzept selbst zu modernisieren und eine plausiblere Operationalisierung zu entwickeln, hat der Psychologe Bob Altemeyer (1981; 1996) vorgelegt. Anders als Adorno et al. (1950), die den Anspruch hatten, ein universelles Konzept zu entwickeln, aber zu recht dafür kritisiert wurden, dass die ursprüngliche F-Skala für links-autoritäre Tendenzen blind war, beschränkt sich Altemeyer (1981) von vorneherein auf “Right-Wing Authoritarianism” (RWA), der für ihn aus drei Elementen besteht, die er aus der Berkeley-Studie übernimmt (Altemeyer 1996: 45): erstens einem Bedürfnis, sich etablierten und als legitim betrachteten Autoritäten unterzuordnen (“authoritarian submission”), zweitens einer Feindseligkeit gegenüber Fremdgruppen und Personen, die vom Stereotyp der Eigengruppe abweichen (“authoritarian aggression”), sowie drittens einem übertriebenen Respekt für Traditionen und soziale Normen (Konventionalismus). Das zugehörige Messinstrument enthält mehr als 30 Einzelaussagen, die von den Untersuchungspersonen auf einer Ratingskala bewertet werden müssen. Obwohl die Formulierung einzelner Aussagen und die dimensionale Struktur des Gesamtinstrumentes nicht unumstritten sind (Duckitt und Bizumic 2013: 842–843), wurden die RWA-Items seit den 1980er Jahren in Hunderten von Studien eingesetzt und stellen heute den Standard zur Messung (rechts)autoritärer Dispositionen dar. Der vollständige Item-Katalog wurden auch (mehrfach) ins Deutsche übersetzt, zudem existieren mehrere verkürzte Varianten (Beierlein u. a. 2014: 10), aus denen Beierlein et al. (2014) eine psychometrisch validierte Kurzskala entwickelt haben.

2.2.4 Populismus

Populismus wird üblicherweise nicht als Einstellung, sondern als “dünne”, d.h. substanzarme Ideologie (Stanley 2008) betrachtet, die sich durch einen besonderen Kommunikationsstil auszeichnet und sich sowohl mit “linken” als auch mit “rechten” politischen Forderungen verknüpfen lässt. Im Zentrum dieser “dünnen Ideologie” steht der Appell an das “Volk”, das aufgefordert wird, sich gegen die etablierten Machstrukturen, die gesellschaftlich dominanten Ideen und Werte und damit gegen die Eliten aufzulehnen (Canovan 1999: 3).

Ähnlich wie im Bereich der Extremismusforschung dominiert trotz der ideologischen Offenheit des Konzepts in der Forschungspraxis auch hier die Beschäftigung mit Phänomenen auf der rechten Seite des politischen Spektrums.2 Die Bezeichnungen “(radical) right-wing populist” bzw. “(radikal) rechtspopulistisch” sind so im wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Sprachgebrauch fast schon zu Synonymen für Parteien und Ideologien geworden, die sich an der Grenze zum Rechtsextremismus bewegen, diese aber noch nicht überschritten haben. Zurecht hat allerdings Mudde (2007: 26) darauf hingewiesen, dass nicht alle rechtsradikalen oder rechtsextremistischen Parteien zugleich populistisch sind, da es gerade im Bereich des Rechtsextremismus auch sehr elitäre Ansätze gibt. Im Anschluss an Canovan (1999) und viele andere Autoren nach ihr weist Mudde außerdem darauf hin, dass Populisten sich häufig nicht als Anti-Demokraten sehen, sondern einen Aspekt der Demokratie, nämlich die Herrschaft des (vermeintlichen) Volkswillens über alle anderen Aspekte, insbesondere über die Grundrechte von Minderheiten und politischen Gegnern sowie über prozedurale Regeln, stellen.
Erst in jüngster Zeit gibt es Versuche, das Konzept des Populismus von der Ebene der Ideen und des Stils auf die Einstellungsebene zu übertragen (Akkerman, Mudde und Zaslove 2014: 1328). Als vielversprechend hat sich dabei eine von Akkerman, Mudde, and Zaslove (2014) selbst entwickeltes Batterie von acht Items erwiesen, die ohne Bezug auf eine bestimmte Links-Rechts-Position formuliert sind. Hinzu kommen je drei Items, die Unterstützung für Pluralismus bzw. Elitismus messen sollen (Akkerman, Mudde und Zaslove 2014: 1331). Einen Überblick über alternative Operationalisierungen haben Silva et al. (2016) vorgelegt.

3. Operationalisierungen und Datenverfügbarkeit

Trotz der unbestrittenen Relevanz des Konzepts stehen empirische Analysen vor dem Problem, dass nur vergleichsweise wenige Datenquellen zur Erforschung extremistischer Einstellungen verfügbar sind. Dies hat im Wesentlichen drei Ursachen. Ersten wurde, wie dargestellt, lange Zeit über den Inhalt und die Verwendung des Extremismusbegriffs gestritten. Zweitens ist, wenn man die Definition von Backes und Jesse akzeptiert, ein eigenes Instrument zur Erfassung generischer extremistischer Einstellungen in gewisser Weise entbehrlich, da es hier in erster Linie um die Nicht-Akzeptanz demokratischer Grundprinzipien (Pluralismus, Minderheitenrechte, freie Wahlen etc.) geht, für die bereits Indikatoren existieren. Drittens schließlich stellt sich hier – stärker noch als in anderen Bereichen der politikwissenschaftlichen Einstellungsforschung – das Problem der sozialen Erwünschtheit. Da in der Bundesrepublik die Idee der Demokratie breiteste öffentliche Anerkennung genießt und darüber hinaus in besonderem Maße (verfassungs)rechtlich geschützt ist, wird sich kaum ein Befragter offen zu antidemokratischen Einstellungen bekennen.

Dennoch gab und gibt es immer wieder Versuche, Extremismus als Einstellung oder Einstellungsbündel zu operationalisieren. Anlass dafür waren in der Regel politische Entwicklungen, die als problematisch oder zumindest erklärungsbedürftig empfunden wurden. Zu nennen sind hier vor allem die Mobilisierungserfolge der NPD in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre (Arzheimer, Schoen und Falter 2001), der Aufstieg der Neuen Sozialen Bewegungen und die damit verbundenen konfrontativen Proteste in den 1970er Jahren (Koopmans 1995) sowie die politischen Verwerfungen nach der Wiedervereinigung. Der Schwerpunkt der Forschung liegt aber einmal mehr im Bereich des Rechtsextremismus.

Die älteste für die wissenschaftliche Öffentlichkeit frei zugängliche Datenquelle ist dabei der Datensatz zur der 1969 von Thomas Herz und Erwin Scheuch durchgeführten Studie zu den Wählern der NPD (“Antidemokratisches Denken und Rechtsradikalismus-Potential”, ZA-Nr 0422, siehe Herz 1975).3 Die meisten der einschlägigen Items aus dem insgesamt sehr umfangreichen Fragebogen lassen sich einer von drei Dimensionen zuordnen, die auch heute noch diskutiert werden:
​- (übersteigerter) Nationalismus

​- Anti-Pluralismus im Sinne von Lipset und Raab (1971) sowie

​- Antisemitische Einstellungen und Einstellungen zum Nationalsozialismus und dessen Aufarbeitung in der Bundesrepublik.

Hinzu kommen zahlreiche Fragen, die sich spezifisch auf die NPD und auf deren Stellung im Parteiensystem beziehen.

Beispiele für die erste Dimension sind etwa die Frage, ob man als Deutscher nur deutsche Waren kaufen solle, ob die Politik der Bundesregierung gegenüber den Siegermächten als “Erfüllungspolitik” zu bezeichnen sei und ob man “Kritik von Ausländern an seinem Vaterland dulden” müsse. Zur Messung anti-pluralistischer Einstellungen fragten Herz und Scheuch u.a., ob Streik-, Demonstrations- und andere demokratische Grundrechte und -prinzipien eingeschränkt werden sollten, wenn die “öffentliche Ordnung” in Gefahr sei, ob eine Ein-Parteien-Herrschaft wünschenswert sei, um die “Interessen aller Schichten unseres Volkes” zu wahren, und ob zum Zeitpunkt der Befragung ein gewaltsamer Austrag politischer Gegensätze notwendig sei.

Besonders umfangreich ist aus naheliegenden Gründen der Fragekatalog zum Nationalsozialismus und zum Umgang mit Tätern und Opfern. Gefragt wurde u.a. nach der Schuld am Zweiten Weltkrieg, der Zahl der ermordeten Juden, den “am meisten typischen” bzw. “am wenigsten typischen” Merkmalen des Nationalsozialismus sowie der angemessen Strafe für antisemitische Äußerungen und der Rolle von Exilanten und NS-Funktionären in der Bundesrepublik. Das Item “Wir sollten, wie es früher war, wieder einen Führer haben, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert” schließlich schlägt eine Brücke zwischen der zweiten und der dritten Dimension.

Etliche dieser Formulierungen werden bis heute in ähnlicher oder unveränderter Form eingesetzt. Darüber hinaus eröffnen die Daten von Herz und Scheuch einen faszinierenden Blick auf die Anhängerschaft der damals neuen NPD und die politische Kultur der frühen Bundesrepublik (Mayer 2011).

Versuche, Linksextremismus oder Extremismus in allgemeiner Form zu operationalisieren, sind hingegen selten geblieben. Eine solche Untersuchung ist die 1975 von Infratest durchgeführte “Protest”-Studie (ZA 1092), deren allgemeine Bevölkerungsumfrage durch Sonderstichproben von Studierenden, Lehrern und Professoren sowie jüngeren Arbeitslosen ergänzt wird.

Neben einigen (damals) unkonventionellen Protestformen wie (Miet-)Boykotts, Besetzungen, Verkehrsblockaden und Teilnahmen an Bürgerinitiativen wurde hier in offener und in geschlossener Form abgefragt, unter welchen hypothetischen Umständen die Teilnehmer politische Gewalt ausüben würden. Bei den Vorgaben handelt es sich einerseits um aus der Perspektive echter oder vermeintlicher Linksextremisten fragwürdige politische Entscheidungen (Bau von Atomkraftwerken, Aussperrungen, Verbot der DKP), andererseits um Situationen, die unter das im Grundgesetz formulierte Recht zum Widerstand gegen Feinde der Freiheitlich-Demokratischen Grundordnung fallen würden (Auflösung der Gewerkschaften, Etablierung einer Einheitspartei).

Ergänzt werden diese Items durch Fragen zur Bewertung undemokratischer politischer Maßnahmen (Verbot jeglicher Demonstrationen, Verhängung des Ausnahmezustandes)4 sowie zur Beurteilung allgemeinerer Aussagen, die sich auf den Bereich Pluralismus und Demokratie beziehen (“Aufgabe der politischen Opposition ist es nicht, die Regierung zu kritisieren, sondern sie in ihrer Arbeit zu unterstützen” oder “In jeder demokratischen Gesellschaft gibt es bestimmte Konflikte, die mit Gewalt ausgetragen werden müssen”). Ähnlich wie im Falle der Studie von Herz und Scheuch wurde und wird ein großer Teil dieser Items in ähnlicher oder identischer Form in späteren Studien repliziert.
15 Jahre nach der “Protest”-Studie warf der Beitritt der früheren DDR zur Bundesrepublik und die damit verbundene Verschmelzung zweier unterschiedlicher politischer Kulturen (Arzheimer 2012) eine ganze Reihe politischer und wissenschaftlicher Fragen auf, die zu einem Wiedererwachen des Interesses an der empirischen Extremismusforschung führten. Eine unmittelbare Reaktion darauf war das von Jürgen W. Falter (Uni Mainz), Oscar W. Gabriel (Uni Stuttgart), Hans Rattinger (Uni Bamberg) und Karl Schmitt (Uni Jena) verantwortete Forschungsprojekt “Politische Einstellungen, politische Partizipation und Wählerverhalten im vereinigten Deutschland”, innerhalb dessen in den Jahren 1994, 1998 und 2002 mehrere tausend repräsentativ ausgewählte Bürger in beiden Regionen Deutschlands teils mehrfach befragt wurden (ZA 4301).

Im Fragebogen enthalten waren 17 Items, die teils auf die oben genannten generischen Aspekte extremistisch-antipluralistischen Denkens abzielten (“Gruppen- und Verbandsinteressen sollten sich bedingungslos dem Allgemeinwohl unterordnen”, “Unter bestimmten Umständen ist eine Diktatur die bessere Staatsform”). Der größere Teil der Fragen sollte aber spezifisch rechts- (Xenophobie, Verklärung des Nationalsozialismus, Antisemitismus) bzw. linksextreme Einstellungen (Befürwortung des Sozialismus und der DDR, Anti-Amerikanismus und Anti-Imperialismus) erfassen. Letzteres erscheint in der Rückschau problematisch, da beispielsweise eine Aussage wie “Die Länder der Dritten Welt werden von den Industrieländern rücksichtslos ausgeplündert” prima facie nicht extremistisch ist und auch empirisch nur schwach mit dem aussagekräftigeren Diktatur-Item zusammenhängt. Aus heutiger Sicht deutlich besser gelungen ist hingegen die Operationalisierung von Rechtsextremismus.

Ausschließlich der Erforschung rechtsextremer Einstellungen dienen, die seit 2002 im Zwei-Jahres-Turnus vorgelegten “Mitte”-Studien von Elmar Brähler, Oliver Decker und Johannes Kiess (Uni Leipzig, zuletzt Decker, Kiess und Brähler 2016). Diese bestehen im Kern aus 18 Items, mit denen die Dimensionen “Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur”, “Chauvinismus”, “Ausländerfeindlichkeit”, “Antisemitismus”, “Sozialdarwinismus” und “Verharmlosung des Nationalsozialismus” gemessen werden sollen (Decker u. a. 2016: 23). Hinzu kommen von Welle zu Welle eine Vielzahl weiterer Instrumente (Decker u. a. 2016: 24), etwa zur Islamfeindschaft, die 2016 gegenüber den Vorjahren stark angestiegen ist (Decker u. a. 2016: 50).

In der wissenschaftlichen und publizistischen Öffentlichkeit werden die “Mitte”-Studien kontrovers diskutiert. Kritisiert wird vor allem, dass die Forschergruppe bereits mit dem Namen der Studie an Lipsets umstrittene These vom “Extremismus der Mitte” (Lipset 1960: Kapitel 5) anknüpft und somit ein mögliches Untersuchungsergebnis vorwegnimmt. Außerdem hat die Autorengruppe für ihre Berichte teils sehr reißerische Titel (“die enthemmte Mitte”) gewählt, obwohl die Studien selbst einen deutlichen Rückgang des Anteils der Befragten mit einem “geschlossen rechtsextremen Weltbild” zeigen.

Hinzu kommt eine weitere Komplikation: 2014 und 2016 wurden deshalb zwei Mitte-Studien vorgelegt: Dabei kam es in der Vergangenheit zu teils deutlichen Abweichungen zwischen beiden Studien, die vermutlich auf Unterschiede in der verwendeten Methode (persönliche Interviews in den Leipziger, Telefoninterviews in den Bielefelder Untersuchungen) zurückgehen.

Ebenfalls eng mit dem Bielefelder Institut verbunden ist ein letztes, inzwischen abgeschlossenes Forschungsprojekt unter Leitung von Wilhelm Heitmeyer, Als “Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit” (GMF) bezeichneten Heitmeyer und seine Kollegen ein Bündel feindseliger Einstellungen gegenüber den Angehörigen bestimmter Gruppen richtet, die gesellschaftlich in einer schwachen Position sind. Konkret untersucht wurden u.a. Vorbehalte gegenüber Menschen anderer Abstammung (Rassismus), Ausländern, Juden, Homosexuellen, Obdachlosen und Behinderten. Auch wenn hier nicht Extremismus im engeren Sinne untersucht wurde, sind derartige Einstellungen offensichtlich nicht mit dem Ideal der liberalen Demokratie vereinbar, sondern fallen letztlich unter den oben vorgestellten Begriff des Rechtsextremismus nach Backes and Jesse (1996: 45).

Ein Teil der innerhalb des GMF-Projektes entwickelten Items wurde bzw. wird in den beiden Mitte-Studien-Reihen repliziert. Darüber hinaus fanden die Ergebnisse der Bielefelder Forschergruppe, hohe Zustimmungsraten. Allerdings ist hier zu bedenken, dass einige Items recht unscharf formuliert sind. Ein Beispiel ist hier die Aussage “Bei der Prüfung von Asylanträgen sollte der Staat großzügig sein”, aus deren Ablehnung nicht auf eine generalisierte feindselige Haltung gegenüber Asylbewerbern geschlossen werden sollte.

Verteilung und Relevanz extremistischer EinstellungenDa seit den 1960er Jahren eine Vielzahl von Operationalisierungen vorgelegt wurden und Informationen über deren Validität und Reliabilität weitgehend fehlen, sind Vergleiche über die Zeit, zwischen Personen und über Regionen hinweg mit erheblichen Schwierigkeiten behaftet. Trotz dieser Probleme lassen sich einige generelle Befunde festhalten, die im Einklang mit den allgemeineren Ergebnissen der Politischen Kulturforschung stehen:

Ein zentraler Hauptbefund ist der generelle Rückgang extremistischer Einstellungen. Bereits Conradt (1980) konnte zeigen, dass die Unterstützung für undemokratische Regime in Deutschland in der Nachkriegszeit rasch an Boden verloren hat. Zugleich wuchs die Bereitschaft, demokratische Institutionen und demokratisch getroffene Entscheidungen auch dann zu akzeptieren, wenn sie den eigenen Präferenzen zuwiderlaufen. Diese positive Entwicklung hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten fortgesetzt. Die überwältigende Mehrheit der Deutschen akzeptiert keine Alternative zur Idee der Demokratie (vgl. unter anderem den Beitrag von Gabriel in diesem Handbuch). In der sechsten Welle des European Social Survey (2012/13) gaben mehr als 85% der deutschen Befragten an, dass es für sie „wichtig“, „sehr wichtig“ oder „extrem wichtig“ (Stufen 8-10 auf einer Zehner-Skala) sei, in einer Demokratie zu leben.

Diese generell positive Bewertung sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass unterhalb dieser generellen Zustimmung zur Demokratie einige spezifischere antidemokratische Einstellungen nach wie vor recht weit verbreitet sind. Im Längsschnitt lässt sich dies vor allem für antisemitische Einstellungen zeigen, die ein wichtiger Bestandteil des traditionellen deutschen Rechtsextremismus sind. So stimmten 1996 25% der Befragten des ALLBUS der Aussage zu, dass „die Juden zuviel Einfluss auf der Welt haben.“ Zehn Jahre später war dieser Wert sogar auf 33 Prozent gestiegen; bei der letzten Replikation im Jahr 2012 lag er bei 24%. Ähnliche Befunde zeigen sich für das noch härter formulierte Item „die Juden waren an ihrer Verfolgung nicht unschuldig“. Hier lagen die Werte für die Jahre 1996-2012 bei 16%, 19% und 16%. Verschiebungen ergebn sich hier in erster Linie dadurch, dass die Gruppe derer, die diese Aussage ablehnen, von 66% auf 71% gewachsen ist, während die Gruppe derjenigen, die ihr neutral gegenüberstehen, entsprechend leicht geschrumpft ist (18% vs. 13%). Ebenfalls im wesentlichen unverändert ist die Bewertung des Items „die Juden nutzen die deutsche Vergangenheit aus“, das als Indikator für den sogenannte sekundären Antisemitismus betrachtet werden kann. Hier lag die Zustimmung 1996 und 2012 bei jeweils 45%. 2006 war sie sogar auf 50% angestiegen.

Ein zweiter wichtiger Befund sind die deutlichen Schicht- und Bildungsunterschiede in der Verbreitung extremistischer Einstellungen. Während die Weimarer Republik darunter litt, dass ein großer Teil der Eliten der Demokratie ablehnend gegenüberstand, zeigt sich in Deutschland ein positiver Zusammenhang zwischen formaler Bildung und sozialer Selbsteinstufung einerseits und Unterstützung der Demokratie andererseits. Dies steht im Einklang mit den Befunden für andere westliche Demokratien (Weakliem 2002). Zu beachten ist dabei allerdings, dass die Stärke dieses Zusammenhanges möglicher Weise aufgrund von Effekten der sozialen Erwünschtheit überschätzt wird: Gerade weil Angehörige der kognitiven Eliten besser als Niedriggebildetere Wissen, dass die Idee der Demokratie in Deutschland weitgehend unangefochten ist, werden sie seltener bereit sein, sich in der Interviewsituation extremistisch zu äußeren, selbst wenn sie entsprechende Ansichten hegen.

Ein dritter Befund bezieht sich auf die Einstellungsunterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland, die seit der Wiedervereinigung Gegenstand intensiver Forschung sind. Diese Differenzen sind aber selten so dramatisch, wie das in der öffentlichen Debatte manchmal suggeriert wird und reduzieren sich weiter, wenn andere Faktoren wie etwa die wirtschaftliche Lage statistisch kontrolliert werden .Es ist wenig überraschend, dass sich auch im Bereich des Extremismus deutliche Ost-West-Unterschiede zeigen. Besonders stark ausgesprägt sind diese bei der Bewertung des Sozialismus. So erreicht das Item „der Sozialismus war eine gute Idee, die nur schlecht ausgeführt wurde” unter den ostdeutschen Befragten der Allbus-Studien von 1991 bis 2010 Zustimmungswerte zwischen 73 % (2010) und 82% (1994). Vor dem Hintergrund der auch im Westen überraschend hohen Zustimmungswerte, die sich in einem Korridor zwischen 40 % (1991) und 52 % (2000) bewegen und vor allem angesichts der auch in den neuen Ländern breiten Unterstützung für die Idee der Demokratie sollten diese Zahlen jedoch nicht im Sinne einer Unterstützung des undemokratischen DDR-Regimes interpretiert werden, sondern sind eher als Ausdruck eines stark sozialstaatlich unterfütterten Demokratiekonzeptes zu verstehen.

4. Probleme, Kontroversen und offene Forschungsfragen

4.1 Fehlen eines einheitlichen Instrumentes

Da seit den 1960er Jahren eine Vielzahl von Operationalisierungen vorgelegt wurden und Informationen über deren Validität und Reliabilität weitgehend fehlen, sind Vergleiche über die Zeit, zwischen Personen und über Regionen hinweg mit erheblichen Schwierigkeiten behaftet. Trotz dieser Probleme lassen sich einige generelle Befunde festhalten, die im Einklang mit den allgemeineren Ergebnissen der Politischen Kulturforschung stehen:

​- Bildungs- und Schichtunterschiede: Anders als in der Weimarer Republik besteht ein klarer positiver Zusammenhang zwischen formaler Bildung/Zugehörigkeit zu Eliten einerseits und pro-demokratischen Einstellungen andererseits. Die Stärke dieses Zusammenhanges, den es in ähnlicher Form auch in anderen Demokratien gibt (Weakliem 2002) wird aufgrund von Effekten sozialer Erwünschtheit (siehe unten) möglicherweise etwas überschätzt.

​- Ost-West-Unterschiede: Bis in die Gegenwart hinein bestehen bezüglich zahlreicher, wenn auch nicht aller Items nennenswerte Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen. Extremistische Einstellungen sind in Ostdeutschland etwas weiter verbreitet als im Westen. Die Differenzen sind aber selten so dramatisch, wie das in der öffentlichen Debatte manchmal suggeriert wird und reduzieren sich weiter, wenn andere Faktoren wie etwa die wirtschaftliche Lage statistisch kontrolliert werden.

Diese breite Palette an wissenschaftlich interessanten und politisch relevanten Befunden darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es nach wie vor an validierten Instrumenten zur Messung von antidemokratischen Einstellungen unterhalb der Bewertung der (weitgehend unkontroversen) “Idee der Demokratie” fehlt.

4.2 Effekte der sozialen Erwünschtheit

Die Demokratie als Staatsform ist in Deutschland fest etabliert und antidemokratische Handlungen sind mit schweren Strafen belegt. Es ist deshalb davon auszugehen, dass die Antworten, die man in standardisierten Interviews erhält, in die Richtung dessen verzerrt sind, was die Befragten als “sozial erwünscht” betrachten (Hossiep 2013). Stärke und Verbreitung antidemokratischer Einstellungen werden somit in der Tendenz unterschätzt. Während man in anderen Bereichen der empirischen Sozialforschung versucht, die Effekte der sozialen Erwünschtheit mit Hilfe besonderer Messverfahren wie der Randomized Response Technique, dem Listenexperiment, dem Implizite Assoziationstests oder der Affective Missattribution Procedure, abzumildern (die allerdings ihrerseits mit spezifischen Nachteilen verbunden sind), geschieht dies in der Extremismusforschung bislang nur ausnahmsweise. Besonders groß ist das Potential für eine solche Verzerrung vermutlich bei Menschen mit hoher formaler Bildung, weil diese eine klarere Vorstellung von den geltenden Normen haben.

4.3 Fehlen von Schwellenwerten und Anteil der “Extremisten”

“Extremismus” wird oft in einem kategorialen Sinne als Gegenbegriff zur Demokratie verstanden. Extremistische Einstellungen sind aber latente, d.h. nicht direkt beobachtbare Variablen, die üblicherweise als kontinuierlich betrachtet werden. In dieser Vorstellung ist die Einstellung eines Befragten ein Punkt auf einem Spektrum, das von gänzlich demokratischen bis hin zu vollständig extremistischen Überzeugungen reicht. Mit Hilfe statistischer Verfahren kann man Personen oder auch Personengruppen bezüglich ihrer Positionen auf diesem Spektrum miteinander vergleichen und so relative Aussagen treffen. Da der Einstellungsdimension keine natürliche Maßeinheit zugrundeliegt, gibt es aber keinen absoluten Schwellenwert, ab dem Personen als extremistisch gelten können. Überlegungen, denen zufolge Personen, die einem hohen Prozentsatz (z.B. 90%) der einschlägigen Items zustimmen, ein “geschlossen extremistisches Weltbild” haben, erscheinen deshalb zwar zunächst plausibel, basieren aber letztendlich auf willkürlichen Setzungen: Je nachdem, wie “hart” oder “weich” die Items formuliert sind, werden die Zustimmungsraten schwanken.5 Dies sollte in der öffentlichen Diskussion über die Ergebnisse der Extremismusforschung klarer kommuniziert werden.

4.4 Zur (Ir)Relevanz extremistischer Einstellungen

In Deutschland wie in anderen westlichen Demokratien kommt es nur noch sehr selten vor, dass Bürger im eigentlichen Sinne extremistische Ansichten äußern, also die Demokratie als Staatsidee vollständig ablehnen. Selbst die Verfasser der Leipziger “Mitte”-Studien, die nicht zu zurückhaltenden Formulierungen neigen, gehen davon aus, dass nur noch zwischen fünf und sechs Prozent der Deutschen ein geschlossen rechtsextremes Weltbild aufweisen. Dementsprechend erfahren offen links- oder rechtsextreme Parteien heute weniger Unterstützung, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Viel problematischer erscheinen aus heutiger Sicht Einstellungen, Verhaltensweisen und Organisationen, die die Idee der Demokratie auf das Prinzip der Mehrheitsherrschaft reduzieren und andere demokratische Prinzipien – Schutz von Minderheitenrechten, Rechtsstaatlichkeit oder Religionsfreiheit – dem (vorgeblichen) Mehrheitswillen unterordnen wollen.

Bereits 1997 warnte Fareed Zakaria vor einer Trennung zwischen elektoraler Demokratie und liberaler Demokratie, betrachtete diesen “Aufstieg der Illiberalen Demokratie” aber noch als auf die Länder außerhalb des westlichen Kulturkreises beschränkt (Zakaria 1997: 23). Inzwischen hat die Illiberale Demokratie längst auch den Westen erreicht. Noch wichtiger als die oben eingeforderte Entwicklung eines validierten Instrumentes zur Messung extremistischer Einstellungen ist deshalb vielleicht die Arbeit an Indikatoren, mit denen die Bewertung liberal-demokratischer Institutionen und Werte differenziert erfasst werden kann.

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1 March and Mudde (2005: 25) weichen diese Definition von Linksradikalismus jedoch bereits im übernächsten Absatz wieder auf: “Second, anti-capitalism is more consistently expressed than anti-democracy, although a radical subversion of liberal democracy may be implicit or explicit in the redistributive aims of many groups”.

2 Für den Zeitraum seit der Jahrtausendwende listet der Social Science Citation Index für die Suchphrase “right-wing populism” etwa achtmal so viele Treffer auf wie für “left-wing populism”.

3 Die hier und im Folgenden erwähnten Datensätze und Fragebögen sind über den Gesis Datenbestandskatalog abrufbar: https://dbk.gesis.org/dbksearch/index.asp?db=d .

4 Diese Items bilden in leicht abgewandelter Form die Kurzskala “Repressionspotential”, mit der die Akzeptanz für die staatliche Unterdrückung von Protesten erfasst werden soll.

5 Zu lösen wäre dieses Problem nur durch eine Extremismustheorie, die so stark formuliert ist, dass sich aus ihr Annahmen über Ankerpunkte auf einer psychometrischen Skala ableiten lassen. Dies scheint schont aus sachlogischen Gründen unmöglich zu sein.