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    Arzheimer, Kai. "Twenty Years After: Sozial- und wirtschaftspolitische Einstellungen von Ost- und Westdeutschen im Vergleich." Zivile Bürgergesellschaft und Demokratie: Aktuelle Ergebnisse der empirischen Politikforschung. Festschrift für Oscar Gabriel. Wiesbaden: VS, 2012. 299–336. doi:10.1007/978-3-658-00875-8_16
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    Die sozial- und wirtschaftspolitischen Einstellungen der Bürger in beiden Teilen Deutschlands unterscheiden sich vor allem im Bereich der grundlegenden Wertorientierungen. Dies deutet auf die fortdauernde Bedeutung langfristig stabiler Sozialisationseffekte hin, die möglicherweise auch in modifizierter Form an die jüngeren Generationen weitergegeben werden. Zugleich sind sich Ost- und Westdeutsche in der Wahrnehmung sozialer Probleme und in ihrer Einschätzung der Leistungsfähigkeit der Sozialsysteme weitgehend einig, obwohl sich ihre Lebensumstände nach wie vor deutlich voneinander unterscheiden. Inwieweit die real existierenden Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen (wahl)politisch wirksam werden, wird deshalb mit davon abhängen, innerhalb welchen Bezugsrahmens politische Probleme und Strategien präsentiert werden.
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Twenty Years After: Sozial- und wirtschaftspolitische Einstellungen von Ost- und Westdeutschen im Vergleich

1 Einleitung und Fragestellung

Als Oscar W. Gabriel 1986 seine breit angelegte Studie zum Wandel der deutschen politischen Kultur in der vorangegangenen Dekade vorlegte, schienen sich die großen Verteilungskonflikte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts weitgehend erledigt zu haben. Im Mittelpunkt der Monographie (Gabriel, 1986) stehen deshalb die dramatischen Entwicklungen hin zu einer auf Partizipation und Anerkennung basierenden politischen Kultur, die oft unter dem Schlagwort „postmaterialistischer Wertewandel“ (Inglehart, 1977) zusammengefasst werden und ihren augenfälligsten Niederschlag im Aufstieg der Neuen Sozialen Bewegungen (Rucht, 1994) und der Partei der Grünen (Falter und Klein, 2003) finden.

Deren vor allem in der Anfangszeit fundamentale Kritik an den ökologischen Folgen der Industrialisierung sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass materielle Fragen keineswegs jegliche Bedeutung verloren hatten. Vielmehr war – ganz im Sinne Ingleharts – der in den vorangegangenen Jahrzehnten erworbene massenhafte Wohlstand gerade die Voraussetzung für den von Gabriel beschriebenen Wandel der Einstellungen und Verhaltensweisen. Dementsprechend konstatiert Gabriel einen weitverbreiteten Wunsch nach einer Reform des politischen Systems der Bundesrepublik, findet aber kaum Hinweise auf revolutionäre Tendenzen oder den Wunsch nach einer dramatischen Umgestaltung des Wirtschafts- und Sozialsystems. Auch in einer zusehends heterogeneren und post-materialistischeren Gesellschaft stiftete die Kombination aus demokratischen Institutionen und einem konservativ-korporatistischen Sozialsystem (Esping-Andersen, 1990) weiterhin in großem Umfang Legitimität und Identität.

Dieser Artikel gehört zu einer Serie von Beiträgen über die politischen Ost-West-Unterschiede in Deutschland

Als sich nur vier Jahre nach dem Erscheinen von Gabriels Buch der Eiserne Vorhang öffnete und die Mehrzahl der Staaten Ost- und Mitteleuropas damit begann, liberal-demokratische Institutionen aufzubauen, schien sich diese aus der Perspektive der westlichen Systeme optimistische Sichtweise zunächst weiterhin zu bestätigen. Auch in der DDR forderten die Menschen Freiheit und Wohlstand. Die spezifisch deutsche Form der Transformation, also die Übernahme des westdeutschen Rechts-, Sozial- und Wirtschaftssystems durch die DDR noch vor deren Auflösung und dem Beitritt der neugebildeten Länder zum Bund, entsprach nicht nur den Präferenzen der westdeutschen Eliten, sondern auch den Wünschen der meisten Ostdeutschen.

Schon bald nach der Wiedervereinigung zeigten sich jedoch (aus westdeutscher Sicht) in Ostdeutschland unerwartete Probleme, die zuerst in den von Oscar Gabriel mitherausgegebenen Berichtsbänden der Kommission für die Erforschung des sozialen und politischen Wandels in den Neuen Bundesländern (vor allem Gabriel, 1997) dokumentiert und später auf Grundlage der Daten eines von Gabriel mitverantworteten DFG-Projektes weiter analysiert wurden (u. a. Falter, Gabriel und Rattinger, 2000, 2005; Rattinger, Gabriel und Falter, 2007).

Im Bereich des Wirtschafts- und Sozialsystems unterschieden sich die Präferenzen der Ostdeutschen deutlich und über die Zeit hinweg stabil von denen der Westdeutschen. Die neuen Bundesbürger befürworteten stärkere Eingriffe der Regierung in die Wirtschaft, schrieben dem Staat eine größere Verantwortung für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu und forderten generell einen Ausbau staatlicher Leistungen(Arzheimer und Klein, 2000; Arzheimer und Rudi, 2007). Eine respektable Minderheit der ostdeutschen Befragten war zudem der Meinung, der Sozialismus sei im Grunde eine gute Idee, die in der DDR nur schlecht umgesetzt worden sei, während eine deutlich kleinere Gruppe sogar der Aussage zustimmte, dass die guten Seiten der DDR in der Summe deren schlechte Seiten überwogen hätten (für einen umfassenden Überblick zur bis heute anhaltenden DDR-Nostalgie siehe Neller, 2006).

Zugleich äußerte die überwältigende Mehrheit der früheren DDR-Bürger Zustimmung zur Demokratie als allgemeiner Staatsidee und zu demokratischen Grundprinzipien – eine spezifisch ostdeutsche Melange, die als „Modell des Demokratischen Sozialismus“ bezeichnet wurde (Fuchs, 1997). Aus heutiger Sicht mag diese eingängige Bezeichnung allerdings etwas zu plakativ erscheinen, da dieses in den neuen Ländern dominierende Einstellungsmuster auch mit dem relativ stark ausgebauten Sozialstaat skandinavischer Prägung kompatibel ist.

Zudem wurde schon Mitte der 1990er Jahre darauf hingewiesen, dass auch in Westdeutschland die Ansprüche an den Sozialstaat im internationalen Vergleich durchaus hoch sind. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Landesteilen bestand damals darin, „dass die Bürger in den neuen Ländern diese Ansprüche relativ stärker einfordern“ (Roller, 1998, S. 91)

In der Literatur wurden diese über die Zeit recht stabilen Ost-West-Differenzen plausibel auf Sozialisationseffekte zurückgeführt (z.B. Arzheimer und Klein, 1997, 2000). Immerhin waren seit 1949 zwei Generationen (differenzierter dazu: Fulbrook, 2006) unter einem zunächst von der westlichen Welt weitgehend isolierten Regime aufgewachsen, dessen erklärtes Ziel es vor allem in den Anfangsjahren gewesen war, unter kontrollierten Bedingungen einen „neuen Menschen“ zu schaffen (Ohse, 2006, S. 217). Dass diese Erfahrung die politischen Einstellungen der ehemaligen DDR-Bürger auch nach der Wiedervereinigung weiter prägen würde, schien weitgehend selbstverständlich. Entscheidend für das Tempo und den Grad der Annäherung zwischen Ost- und Westdeutschen sollte deshalb in erster Linie die Entwicklung der jüngeren, d. h. nach 1980 geborenen Kohorten zu sein, die wenige oder keine bewussten Erinnerungen an die DDR hatten und unter gesamtdeutschen Bedingungen sozialisiert wurden.

Diese Argumentation übersieht allerdings zwei wichtige Faktoren (Arzheimer und Rudi, 2007): Zum einen wurden zwar nach 1990 Institutionen nach Ostdeutschland importiert, Gesetze, Lehrpläne und das Mediensystem nach westlichen Standards gestaltet und im erheblichen Umfang auch Eliten ausgetauscht. Sozialisation findet aber nach wie vor auch in Familien statt, wo die Eltern- und insbesondere auch die Großelterngeneration ihre Überzeugungen, Erfahrungen und Deutungsangebote an die Jüngeren weitergibt. Zum anderen sind auch mehr als zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung die Lebensbedingungen in Deutschland keineswegs einheitlich: Im Mittel ist Ostdeutschland nach wie vor ärmer und weniger produktiv als Westdeutschland.1 Selbst bei jüngeren Ostdeutschen ist deshalb nicht notwendigerweise eine schnelle Annäherung an die aus dem Westen vertrauten Muster zu erwarten.

Und selbst diese Muster sind möglicherweise keineswegs so stabil und eindeutig, wie man in der Vergangenheit angenommen hat. So deuten die Zeitreihen des Allensbacher Instituts für Demoskopie darauf hin, dass mit dem Wegfall einer erkennbaren kommunistischen Bedrohung der Wert der Freiheit zugunsten des Wertes der Gleichheit an Bedeutung verloren hat (Noelle-Neumann und Köcher, 1997). Auch das Scheitern der Regierung Schröder II an den von ihr initiierten Sozial- und Arbeitsmarktreformen (Holtmann, 2009), die bundesweite Ausbreitung der Linkspartei (Hough, Koß und Olsen, 2007) und die nach dem Wahldebakel von 2005 initiierte Sozialdemokratisierung der Unionsparteien (Zolleis und Bartz, 2010, S. 56-60) geben deutliche Hinweise darauf, dass sich auch in Westdeutschland viele Bürger einen starken und aktiven Staat wünschen, der steuernd in die wirtschaftliche und soziale Entwicklung eingreift.

Im sozialen und ökonomischen Bereich gibt es ebenfalls deutliche Hinweise auf eine Annäherung zwischen Ost und West. So haben einige frühere Zentren der deutschen Schwerindustrie (z. B. Bremerhaven und Gelsenkirchen) mit Problemen zu kämpfen, die denen vieler Kommunen in den neuen Ländern mindestens ebenbürtig sind, während sich einige wenige ostdeutsche Gebiete (z. B. der Großraum Dresden) zu regelrechten Boomregionen entwickelt haben. Zugleich signalisieren politische Innovationen der letzten Jahre wie der Einstieg in die Ganztagsbeschulung in den westdeutschen Ländern, die Einführung des Elterngeldes (durch eine Ministerin von der CDU) sowie der massive Ausbau der Tagesbetreuung, dass die Idee der Hausfrauenehe, die bis vor kurzem ein zentraler Bestandteil des (west)deutschen Sozialstaatsmodells war (Gottschall und Bird, 2003, S. 116-120), auch im Westen an Rückhalt verliert.2

Durch den Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahr 2008 sollten sich diese Annäherungstendenzen noch verstärkt haben. Noch vor wenigen Jahren wäre es undenkbar gewesen, dass eine liberal-konservative Bundesregierung im großen Maßstab Banken verstaatlicht. Die einstige Lieblingsforderung der Gegner eine „neoliberalen“ Globalisierung nach einer Regulierung der Kapitalmärkte und der Einführung einer Steuer auf Finanzgeschäfte ist inzwischen (unilaterale) Regierungspolitik.3 Weite Teile der Bevölkerung stehen dem internationalen Finanzssytem höchst kritisch gegenüber und fürchten um die Sicherheit ihrer Arbeitsplätze und Ersparnisse.

Im Ergebnis sollte die aktuelle Krise zu einer Annäherung in den wirtschafts- und sozialpolitischen Einstellungen von Ost- und Westdeutschen führen und stellt damit eine Art natürliches Experiment dar, das ein Schlaglicht auf die Bedeutung von Situation und (regionaler) Sozialisation für einen zentralen Bereich politischer Einstellungen wirft. Ziel des vorliegenden Beitrages ist es, vor diesem Hintergrund einen Überblick über das Ausmaß und die politische Bedeutung der nach wie vor bestehenden Ost-West-Unterschiede in den Einstellungen zum Sozialstaat zu geben.

2 Analyse

2.1 Daten und Methode

Die Daten, die in diesem Beitrag verwendet werden, stammen aus der vierten Welle des European Social Survey und sind in mehrfacher Hinsicht besonders gut geeignet, die in der Einleitung skizzierte Forschungsfrage zu beantworten. Erstens fällt die Feldphase der deutschen ESS-Befragung (September 2008 bis Januar 2009) mit der ersten Phase der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise zusammen. Wenn es die vermutete Annäherung zwischen Ost und West gibt, sollte dies in den Daten sichtbar werden. Zweitens ist in der vierten Welle des ESS ein umfangreiches Modul zum Thema „Welfare Attitudes in Changing Europe“ enthalten, das eine Vielzahl von Items enthält, die exakt auf die hier untersuchte Fragestellung zugeschnitten sind. Drittens schließlich gilt der ESS als Referenzstudie mit einer besonders hohen Datenqualität.

Aus verschiedenen Gründen wurden für die einzelnen Items im Datensatz je unterschiedliche Skalen verwendet. In einigen Fällen handelt es sich um Ratingskalen mit nur vier Ausprägungen („überhaupt nicht wahrscheinlich, nicht sehr wahrscheinlich, wahrscheinlich, sehr wahrscheinlich“), während bei anderen Items fünfstufige Skalen zum Einsatz kamen („lehne stark ab“ – „stimme voll zu“ ). Eine dritte Gruppe von Items verwendet elfstufige numerische Skalen mit verbalen Endpunkten (z. B. „0 = äußerst gut“ bis „10 = äußerst schlecht“). In einigen wenigen Fällen schließlich (z. B. Schätzung der Arbeitslosenquote) wurde den Befragten eine Reihe von Intervallen vorgelegt, deren oberstes nach rechts offen war („x Prozent oder mehr“).

Items der ersten beiden Typen werden mit logistischen Modellen für ordinale Daten analysiert, während für die letztgenannten Items Intervallregressionen geschätzt werden, die berücksichtigen, dass die genaue Antwort des Befragten nicht bekannt ist. Für die elfstufigen Skalen werden lineare Regressionsmodelle berechnet.

Alle Modelle (zur Erklärung von Erwartungen an den Staat, zur Beurteilung von Systemleistungen, zur Wahrnehmung von sozialen Risiken, zu den nicht-intendierten Folgen der Sozialpolitik sowie zur Belastbarkeit des Sozialsystems) enthalten die gleichen potentiellen Erklärungsfaktoren, die jeweils mit der Regionalvariablen interagiert wurden. Dabei handelt es sich zunächst um die soziale (Berufs-)klasse, die nach wie vor einen erheblichen Einfluss auf die politischen Einstellungen hat. Diese wird durch eine vereinfachte4 Variante des bekannten Goldthorpe-Schemas (Erikson, Goldthorpe und Portocarero, 1979) erfasst, die auf den nach ISCO88 kodierten Berufen der Befragten basiert. Als Referenzkategorie wird jeweils die „obere Dienstklasse“ verwendet.

Eine zweite5 wichtige Variable ist die formale Bildung, die hier auf drei Kategorien reduziert wird, wobei die Ausprägungen „hoch“ als Referenzkategorie dient.6 Wie alle anderen Variablen steht „Bildung“ hier stellvertretend für ein komplexes Bündel von Interessenlagen und Wertorientierungen, die die Haltung gegenüber sozialpolitischen Fragen beeinflussen können.

Lebenszyklus- bzw. Kohorteneffekte – beide lassen sich mit Querschnittsdaten naturgemäß nicht separieren – werden über eine Trichotomisierung des Geburtsjahres operationalisiert. Der im folgenden als „Vorkriegsgeneration“ bezeichnete Referenzgruppe der vor 1940 Geborenen stehen die (sehr weit gefasste) „Nachkriegsgeneration“ sowie die Gruppe der ab 1980 geborenen Befragten gegenüber, die im wesentlichen gesamtdeutsch sozialisiert wurden.

Zu diesen im wesentlichen statischen Kategorien kommen zwei Variablen, die für die Fragestellung relevante situative Faktoren abbilden. Eine erste Dummyvariable erfasst, ob der bzw. die Befragte in den letzten fünf Jahren wenigstens einmal für eine Phase von mindestens drei Monaten arbeitsuchend war. Diese Kategorie ist trennschärfer als die aktuelle Arbeitslosigkeit, weil sie einerseits kürzere Episoden, die durch einen Umzug oder den Wechsel des Arbeitgebers bedingt sein können, ausblendet, andererseits aber der Tatsache Rechnung trägt, dass ein Bruch in der Erwerbsbiographie wirtschaftliche, soziale und psychologische Folgen hat, die über das Ende der jeweiligen Episode hinausgehen.

Von ähnlicher Bedeutung ist die Frage, ob im Haushalt Kinder leben: Befragte mit jüngeren Kindern sind auf Schulen und Betreuungseinrichtungen angewiesen, Befragte, die mit erwachsenen Kindern zusammenleben, unterstützen diese häufig finanziell oder sind selbst auf deren Hilfe angewiesen. In jedem Fall ist davon auszugehen, dass die Anwesenheit von Kindern im Haushalt die Einstellungen zum Sozialstaat beeinflusst.

Eine letzte wichtige Variable ist das Geschlecht der Befragten. In kaum einem andere Politikfeld sind Genderfragen – hier repräsentiert durch den kruden Indikator des biologischen Geschlechts – von so zentraler Bedeutung wie in der Sozialpolitik: Geschlechterrollen und geschlechtsspezifische Wertvorstellungen sind zugleich Grundlage, Rahmen und Produkt sozialpolitischer Massnahmen. Insbesondere werden Männer und Frauen gerade im Bereich der Kindererziehung in je unterschiedlicher Weise zu Adressaten sozialpolitischer Leistungen und Massnahmen.7 Deshalb wurde hier eine zusätzliche Interaktion in die Modelle aufgenommen.

Aufgrund der zahlreichen Interaktionen und der in einigen Modellen enthaltenen nicht-linearen Effekte ist die inhaltliche Bedeutung der geschätzten Koeffizienten nicht immer einfach einzuschätzen. Für die inhaltliche Interpretation wird deshalb soweit wie möglich auf erwartete Werte bzw. geschätzte Wahrscheinlichkeiten zurückgegriffen (King, Tomz und Wittenberg, 2000; Long und Freese, 2001).

2.2 Ergebnisse

2.2.1 Erwartungen an den Staat und „Soziale Gerechtigkeit“

 


, , ; robuste Standardfehler, Bundesländer als Cluster

ArbeitsplätzeBetreuungsplätze
Ostdeutschland2.305∗∗∗1.066∗∗∗
untere Dienstklasse0.772∗−0.180
einfache Angestellte0.684∗−0.311∗
Fach-/Vorarbeiter1.128∗∗∗−0.137
einfache Arbeiter1.341∗∗∗−0.106
Selbständige0.670∗−0.299
Ost: untere Dienstklasse−0.6980.261
Ost: einfache Angestellte−0.0640.486
Ost: Fach-/Vorarbeiter0.0090.416
Ost: einfache Arbeiter−0.4340.329
Ost: Selbständige0.1000.252
einfache Bildung0.452−0.114
mittlere Bildung0.701∗∗0.042
Ost: einfache Bildung0.8290.140
Ost: mittlere Bildung−0.186−0.024
Nachkrieg−0.0550.597∗∗∗
1980+0.4500.969∗∗∗
Ost: Nachkrieg−0.250−0.224
Ost: 1980+−1.225∗∗−0.573∗
männlich−0.304−0.409∗∗
Ost: männlich−0.3490.082
Arbeitslosigkeit (5J)0.538∗∗∗0.407∗∗
Ost: Arbeitslosigkeit (5J)−0.134−0.246
Kind im HH0.471∗0.249
Ost: Kind im HH−0.420−0.462∗∗
männlich: Kind im HH−0.701∗0.072
Ost/männlich: Kind im HH0.3200.455
Konstante4.543∗∗∗7.337∗∗∗
N  23632357
Adj. R20.1300.102
∅ Ost-West1.3581.070

Tabelle 1: Erwartungen der Bürger an den Staat


Tabelle 1 zeigt die Koeffizientenschätzungen für die beiden ersten Modelle zur Erklärung von Erwartungen der Bürger an den Staat. Gefragt war, ob der Staat dafür verantwortlich solle, „einen Arbeitsplatz für jeden sicherzustellen, der arbeiten will“ bzw. „ausreichende Kinderbetreuungsmöglichkeiten für berufstätige Eltern sicherzustellen“. Ein Antwortwert von 0 bedeutet dabei, dass der Staat dafür „überhaupt nicht verantwortlich sein sollte“, während ein Wert von 10 dafür steht, dass der Staat als „voll und ganz verantwortlich“ gesehen wird.

Die Referenzkategorie für diese und alle folgenden Modelle bilden die westdeutschen Frauen der Vorkriegsgeneration, die der oberen Dienstklasse angehören, über einen höheren Bildungsabschluss verfügen, ohne Kinder leben und in den letzten fünf Jahren nicht von Arbeitslosigkeit betroffen waren. Für sie wird für das erste Item ein Skalenwert von 4.5, also im leicht ablehnenden Bereich geschätzt.

Sehr stark ausgeprägt ist mit 2.3 Skalenpunkten der Unterschied zwischen dieser Gruppe und ihrem ostdeutschen Pendant, die im Mittel dieser Aussage eher zustimmt. In den übrigen Berufsklassen fallen die Differenzen etwas weniger dramatisch aus, wie an den fast durchgehend negativen Interaktionen zwischen Region und Klasse abzulesen ist. Darüber hinaus sind in Westdeutschland alle anderen Klassen deutlich etatistischer eingestellt als die obere Dienstklasse. Situative Faktoren wie Episoden von Arbeitslosigkeit und das Zusammenleben mit Kindern erhöhen bei westdeutschen Frauen die Zustimmung um rund eine halben Skalenpunkt. Im Osten fällt dieser Effekt etwas schwächer aus. Bei westdeutschen Männern hat die Anwesenheit von Kindern hingegen einen deutlich negativen Einfluss auf die Bewertung des Items, während bei ostdeutschen Männern nur ein schwacher negativer Effekt zu erkennen ist.

Durch die Vielzahl der Interaktionen sind die Koeffizienten nicht einfach zu interpretieren. Hier und bei den folgenden Modellen wird deshalb auf zwei Hilfsmittel zurückgegriffen, die die inhaltliche Interpretation der Modellschätzungen erleichtern. Zunächst ist in der untersten Zeile der Tabelle der „Average Marginal Effect“ (AME, Bartus 2005) der Regionszugehörigkeit eingetragen. Dieser beträgt hier 1.4 Skalenpunkte und ergibt sich aus der über alle tatsächlich befragten Personen gemittelten Schätzung des Ost-West-Effekts.8 Er entspricht damit der Differenz zwischen beiden Landesteilen, die auf Grund der Modellschätzung zu erwarten wäre, wenn sich Ost und West in der Zusammensetzung der Bevölkerung nicht unterscheiden würde, also beispielsweise der Arbeiteranteil und die Arbeitslosenquote in Ostdeutschland nicht höher wären als im Westen.


PIC

Abbildung 1: Erwartete Werte für ausgewählte Gruppen: Staat für Arbeitsplätze verantwortlich (1 = „auf keinen Fall“; 11 = „voll und ganz“)


Darüber hinaus zeigt Abbildung 1 die erwarteten Werte, die vom Modell für die verschiedenen Gruppen geschätzt werden. Auf diese Weise lässt sich die inhaltliche Bedeutung der Ost-West-Unterschiede auch in Relation zu den übrigen Effekten recht gut einordnen.9 Alle weiteren Grafiken sind analog zu Abbildung 1 aufgebaut.

Aus Abbildung 1 geht klar hervor, dass sich bezüglich der Eingriffe der Regierung in das Wirtschaftsleben auch rund zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung die Präferenzen von Ost- und Westdeutschen klar unterscheiden. Während innerhalb der beiden Regionen so gut wie keine signifikanten Unterschiede zwischen den sozialen Gruppen bestehen, unterscheiden sich trotz der oben skizzierten möglichen Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise innerhalb der Gruppen Ost- und Westdeutsche zumeist sehr deutlich: Im Mittel geben Westdeutsche eine eher ablehnende oder neutrale Antwort, während Ostdeutsche in der Tendenz für eine aktivere Rolle des Staates in der Arbeitsmarktpolitik eintreten. Dies gilt fast unabhängig davon, ob die Befragten selbst direkt von Arbeitslosigkeit betroffen sind.

Zusammengenommen deuten diese Befunde auf starke Sozialisationseffekte hin. Zugleich gibt es allerdings einen Hinweis auf eine Annäherung zwischen beiden Regionen: In den jüngsten, d. h. nach 1980 geborenen Altersgruppen unterscheiden sich die Erwartungen an den Staat nicht signifikant.


PIC

Abbildung 2: Erwartete Werte für ausgewählte Gruppen: Staat für Betreuungsplätze verantwortlich (1 = „auf keinen Fall“; 11 = „voll und ganz“)


Ein zweites Item, das die Zuschreibung von Staatsaufgaben messen soll, bezieht sich auf die Verantwortlichkeit für die Bereitstellung von Kinderbetreuungsmöglichkeiten für berufstätige Eltern. Auch hier sind in den meisten sozialen Gruppen deutliche und häufig auch statistisch signifikante Unterschiede zwischen Ost und West zu verzeichnen. Die mittlere Differenz zwischen beiden Regionen beträgt einen Punkt auf der elfstufigen Ratingskala. Zugleich treten hier allerdings auch einige erkennbare Differenzen innerhalb der alten Bundesländer auf. Diese betreffen vor allem den (unter Kontrolle aller übrigen Faktoren signifikanten) Kontrast zwischen Männern, die ohne Kinder leben, und Frauen mit Kindern im Haushalt sowie die Differenz zwischen der westdeutschen Vorkriegsgeneration und den jüngeren Altersgruppen.

Dabei sollte allerdings nicht übersehen werden, dass für alle hier betrachteten Gruppen der mittlere erwartete Wert im zustimmenden Bereich liegt. Es besteht also inzwischen ein relativ breiter Konsens darüber, dass die Einrichtung von Betreuungsplätzen eine staatliche Aufgabe sein soll.

 


, , ; robuste Standardfehler, Bundesländer als Cluster

Einkommensungleichheit …
ungerechtReduktion
Ostdeutschland0.935∗∗∗1.550∗∗∗
untere Dienstklasse−0.0850.268∗
einfache Angestellte0.2470.419∗∗
Fach-/Vorarbeiter0.1170.647∗∗
einfache Arbeiter0.432∗0.770∗∗∗
Selbständige−0.2160.267∗
Ost: untere Dienstklasse0.1110.111
Ost: einfache Angestellte−0 .2300 .129
Ost: Fach-/Vorarbeiter0.3900.366
Ost: einfache Arbeiter−0.2400.098
Ost: Selbständige0.5570.557
einfache Bildung0.3480.438∗∗
mittlere Bildung0.1520.307∗∗∗
Ost: einfache Bildung0.887∗−0.713∗
Ost: mittlere Bildung0.060−0.349∗∗
Nachkrieg0.0890.189
1980+0.066−0.065
Ost: Nachkrieg−0.341∗−0.548∗
Ost: 1980+−0.425∗−0.443
männlich−0.053−0.136
Ost: männlich−0.1950.076
Arbeitslosigkeit (5J)−0.0410.654∗∗∗
Ost: Arbeitslosigkeit (5J)0.151−0.253
Kind im HH0.0450.079
Ost: Kind im HH−0.060−0.109
männlich: Kind im HH−0.148−0.166
Ost/männlich: Kind im HH−0.0260.183
Cutpoint 1−3.909∗∗∗−2.850∗∗∗
Cutpoint 2−1.073∗∗∗−0.622∗∗∗
Cutpoint 30.1520.261
Cutpoint 42.921∗∗∗2.501∗∗∗
N  23532346
Pseudo R2(McFadden Adj.)0.0000.025
Pseudo R2(McKelvey & Zavoina)0.0660.128
∅ Ost-West (% stimme stark zu)0.0590.178

Tabelle 2: Gerechtigkeit Einkommensverteilung


Tabelle 2 zeigt die Befunde für zwei Items, die auf das für die politische Diskussion in Deutschland im Allgemeinen und für Ostdeutschland im Besonderen zentrale Thema der „sozialen Gerechtigkeit“ – hier: die Akzeptanz für eine Ungleichheit der Einkommensverteilung – abzielen. Dabei thematisiert das erste Item direkt den Gerechtigkeitsaspekt, („Damit eine Gesellschaft gerecht ist, sollten die Unterschiede im Lebensstandard der Menschen gering sein“), während das zweite Item komplementär dazu aus der real vorhandenen Ungleichheit einen Anspruch auf staatliches Handeln ableitet („Der Staat sollte Maßnahmen ergreifen, um Einkommensunterschiede zu verringern“). Da die fünf Antwortvorgaben von „stimme stark zu“ bis „lehne stark ab“ eher als Ordinal- denn als Intervallskala zu betrachten sind, wurden hier ordinale logistische Modelle geschätzt, was die Interpretation etwas erschwert.

Festzuhalten ist zunächst, dass sich in beiden Landesteilen etwa ein knappes Fünftel (Ost) bzw. fast ein Drittel (West) der Befragten am neutralen Punkt der Antwortskala verortet. Relative große Minderheiten von einem Fünftel (West) bzw. einem Sechstel (Ost) empfindet Einkommensunterschiede als akzeptabel, während eine knappe (West) bzw. große (Ost) Mehrheit Einkommensunterschiede als ungerecht betrachtet. Diese Auffassung wird im Osten zudem tendenziell mit mehr Emphase vertreten.

Die linke Spalte von Tabelle 2 zeigt, dass einfache Arbeiter, Ostdeutsche und Menschen mit einfacher Bildung die Einkommensunterschiede in der Tendenz als weniger gerecht empfinden als andere Befragte. Insgesamt ist die Erklärungskraft des Modells aber recht gering, wie an den eher niedrigen Pseudo-R2−Werten abzulesen ist.


PIC

Abbildung 3: Erwartete Werte für ausgewählte Gruppen: Einkommensungleichheit ungerecht – Wahrscheinlichkeit „stimme zu“


Aufgrund der ordinalen und non-linearen Struktur des Modells ergibt sich für jede der fünf Antwortkategorien ein eigener AME der Regionszugehörigkeit. In der Tabelle ausgewiesen ist der Wert für die extremste Antwortvorgabe („stimme stark zu“). Dieser liegt bei 0,059, d. h. die Eigenschaft, Ostdeutscher zu sein, erhöht im Mittel die Wahrscheinlichkeit, dass ein Befragter die Einkommensstruktur als extrem ungerecht empfindet, um knapp sechs Prozentpunkte.

Abbildung 3 zeigt über alle untersuchten Gruppen hinweg die erwarteten Raten für die einfache Zustimmung. Diese sind im Osten durchgehend und häufig auch im statistischen Sinne signifikant höher als im Westen, während innerhalb der Regionen keine signifikanten Unterschiede zwischen den sozialen Gruppen auftreten. Auffällig sind vor allem die klaren Unterschiede zwischen ost- und westdeutschen Selbständigen, aber auch zwischen den Angehörigen der Vorkriegsgeneration in beiden Regionen. Davon abgesehen muss aber nochmals darauf hingewiesen werden, dass sich in der Grafik die weitverbreitete Skepsis gegenüber großen Einkommensunterschieden in beiden Landesteilen ablesen lässt.

Sehr deutlich unterscheiden sich allerdings die Konsequenzen, die alte und neue Bundesbürger aus dieser Einstellung ziehen: Der Aussage, der Staat solle „Maßnahmen ergreifen, um Einkommensunterschiede zu verringern“ stimmen die Ostdeutschen (noch) weitaus stärker zu als die Westdeutschen. Bezogen auf die Kategorie „stimme voll zu“ beträgt der mittlere Unterschied zwischen Ost und West rund 18 Prozentpunkte, wie sich ganz unten rechts in Tabelle 2 ablesen lässt.


PIC

Abbildung 4: Erwartete Werte für ausgewählte Gruppen: Reduktion von Einkommensungleichheit Aufgabe des Staates – Wahrscheinlichkeit „stimme stark zu“


Auch hier erleichtert eine graphische Darstellung die Interpretation der Befunde sehr. Wie in Abbildung 4 zu erkennen ist, unterscheiden sich über alle betrachteten Gruppen hinweg Ost- und Westdeutsche sehr deutlich. Einzige Ausnahme sind die Befragten mit einfacher Bildung. Innerhalb der Regionen sind die Unterschiede in den erwarteten Zustimmungsraten wiederum relativ gering und zumeist nicht signifikant. Lediglich die westdeutschen Arbeitslosen stimmen dem Item in dieser starken Form signifikant häufiger zu als jene westdeutschen Befragten, die innerhalb der letzten fünf Jahre nicht von Arbeitslosigkeit betroffen waren.

2.2.2 Bewertung der Systemleistungen

Im vorangegangen Abschnitt wurden die teils recht deutlichen regionalen Unterschiede in den Erwartungen an den Staat bzw. die Regierung herausgearbeitet. Diese Ost-West-Differenzen werfen die Frage auf, ob und wie sich die Bewertungen der Systemleistungen in beiden Landesteilen unterscheiden. Dabei soll sich die Betrachtung auf zwei Items konzentrieren, die auf Themen abzielen, die im Zentrum der sozialpolitischen Diskussionen der letzten Jahre standen. Zum einen stellte sich vielen Bürgern im Zusammenhang mit den „Agenda“-Reformen die Frage (insbesondere mit Blick auf die Hartz IV-Sätze für Kinder), ob das Niveau der Sozialleistungen für wirklich Bedürftige noch ausreichend ist. Diese Problematik greift das Item „Die Sozialleistungen in Deutschland sind unzureichend, um den Menschen zu helfen, die wirklich in Not sind“ auf. Auch hier wurde den Befragten wieder eine fünfstufige Ratingskala vorgegeben.

Das zweite Item ist hingegen deutlich spezifischer gefasst und zielt auf das Problem der Jugendarbeitslosigkeit. Hier wurde gefragt, wie die Respondenten „im Großen und Ganzen die Chancen von jungen Menschen ein[schätzen], zum ersten Mal eine Stelle zu finden“. Dabei konnten sie ihre Antworten mit Werten zwischen 0 („äußerst schlecht“) und 10 („äußerst gut“) abstufen.

 


, , ; robuste Standardfehler, Bundesländer als Cluster

Leistungen adäquat fürChancen von
BedürftigeBerufsanfängern
Ostdeutschland−0.367−1.090∗∗
untere Dienstklasse−0.566∗∗∗−0.486∗∗
einfache Angestellte−0.625∗∗∗−0.585∗∗
Fach-/Vorarbeiter−0.945∗∗−0.936∗∗∗
einfache Arbeiter−0.892∗∗−0.871∗∗
Selbständige−0.545−0.469
Ost: untere Dienstklasse0.2740.779∗
Ost: einfache Angestellte0.4090.347
Ost: Fach-/Vorarbeiter0.3800.461
Ost: einfache Arbeiter0.0930.445
Ost: Selbständige0 .0300 .330
einfache Bildung−0.311−0.493∗∗
mittlere Bildung−0.235−0.307∗
Ost: einfache Bildung−0.569−0.416
Ost: mittlere Bildung−0.384−0.152
Nachkrieg−0.119−0.290
1980+−0.273−0.021
Ost: Nachkrieg−0.0300.442
Ost: 1980+0.0710.424
männlich0.0020.311∗∗
Ost: männlich−0.009−0.303
Arbeitslosigkeit (5J)−0.310−0.791∗∗∗
Ost: Arbeitslosigkeit (5J)−0.492∗0.444∗
Kind im HH−0.351∗∗∗0.197
Ost: Kind im HH0.002−0.639
männlich: Kind im HH0.542∗−0.082
Ost/männlich: Kind im HH−0.0790.905
Konstante5.644∗∗∗
Cutpoint 1−3.504∗∗∗
Cutpoint 2−1.058∗∗∗
Cutpoint 3−0.098
Cutpoint 43.009∗∗∗
N  23342360
Adj. R20.080
Pseudo R2(McFadden Adj.)0.012
Pseudo R2(McKelvey & Zavoina)0.095
∅ Ost-West (% lehne stark ab/Punkte)0.048−0.500

Tabelle 3: Adäquate Leistungen/Chancen


Die linke Spalte von Tabelle 3 zeigt zunächst die Schätzungen für das Bedürftigkeits-Item. Trotz der nach wie vor sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen und sozialen Umstände in beiden Landesteilen treten hier nur relativ schwache regionale Unterschiede auf.


PIC

Abbildung 5: Erwartete Werte für ausgewählte Gruppen: Leistungen für Bedürftige adäquat – Wahrscheinlichkeit „lehne stark ab“


Sehr deutlich ist dies in Abbildung 5 zu erkennen, die die erwarteten Zustimmungsraten für die extremste Antwortkategorie („lehne stark ab“) zeigt. Dabei haben Gruppenzugehörigkeiten kaum einen Einfluss auf das erwartete Antwortverhalten. Ost-West-Unterschiede sind zwar deutlich ausgeprägt, aber nur im Falle der Arbeitslosen signifikant. Von diesen lehnen in Ostdeutschland 20 Prozent die Aussage ab, während der westdeutsche Vergleichswert nur bei 10 Prozent liegt.

Die rechte Spalte von Tabelle 3 zeigt die Modellschätzungen für das Item zu den Chancen von Berufsanfängern.10 Aus dem relativ niedrigen (korrigierten) R2 lässt sich ablesen, dass das Modell trotz der großen Zahl von Variablen nur einen relativ kleinen Teil der Antwortvarianz aufklären kann. Der AME beträgt hier 0.5 Skalenpunkte, d. h. über alle Gruppen hinweg schätzen die Ostdeutschen die Aussichten von Berufseinsteigern geringfügig negativer ein als ihre westdeutschen Mitbürger.


PIC

Abbildung 6: Erwartete Werte für ausgewählte Gruppen: Perspektiven junger Berufsanfänger (1 = „extrem schlecht“; 11 = „extrem gut“)


Abbildung 6 zeigt jedoch ein etwas differenzierteres Bild. Zunächst ist festzuhalten, dass zum Zeitpunkt der Umfrage die deutsche Öffentlichkeit generell einen eher negativen Eindruck von den beruflichen Perspektiven junger Menschen hatte: Der mittlere Skalenwert der Befragten liegt bei 4,6, also im negativen Bereich. Dies mag der zunächst unübersichtlichen Situation im Krisenjahr 2008 geschuldet sein, erscheint aber heute mit Blick auf den sich abzeichnenden Mangel an jungen Fachkräften als unangemessen pessimistisch. Darüber hinaus scheinen die persönlichen Umstände den Blick auf die Gesellschaft zu färben: Menschen mit höheren Bildungsabschlüssen und Personen, die selbst nicht arbeitslos sind, nehmen ebenso wie die (westdeutschen) Mitglieder der oberen Dienstklasse die Lage etwas optimistischer wahr. Ost-West-Unterschiede sind (ebenso wie die Unterschiede innerhalb der Regionen) relativ schwach ausgeprägt und in den meisten Fällen nicht signifikant von Null verschieden. Bemerkenswert sind allerdings die regionalen Unterschiede innerhalb der oberen Dienstklasse sowie die sehr pessimistische Auffassung derjenigen Ostdeutschen, die selbst nicht von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Diese deutet auf ein hohes Maß von Bedrohungsgefühlen hin, die im nächsten Abschnitt näher untersucht werden.

2.2.3 Prävalenz von Problemen und subjektive Risiken

Der ESS enthält zwei Items, die sich auf ökonomische Bedrohungsgefühle beziehen: Gefragt wurde zum einen, für wie wahrscheinlich es die Befragten halten, „dass Sie in den nächsten 12 Monaten arbeitslos werden und mindestens vier Wochen lang eine neue Stelle suchen müssen“, zum anderen, wie wahrscheinlich es sei, „dass es in den nächsten 12 Monaten Zeiten geben wird, in denen Sie nicht genug Geld für die Güter des täglichen Bedarfs ihres Haushalts haben werden“. Im Unterschied zu den bisher verwendeten Items wurden den Respondenten hier nur vier Antwortkategorien vorgegeben: „überhaupt nicht wahrscheinlich“, „nicht sehr wahrscheinlich“, „wahrscheinlich“ und „sehr wahrscheinlich“. Wegen dieser geringen Zahl von Antwortvorgaben werden hier wiederum ordinale logistische Modelle geschätzt.

 


, , ; robuste Standardfehler, Bundesländer als Cluster

Subjektive Wahrscheinlichkeit für …
ArbeitslosigkeitArmut
Ostdeutschland−0.589−0.139
untere Dienstklasse0.1620.589∗∗∗
einfache Angestellte0.4680.702∗
Fach-/Vorarbeiter0.737∗∗1.092∗∗∗
einfache Arbeiter0.620∗∗1.132∗∗∗
Selbständige0.0670.605∗∗
Ost: untere Dienstklasse−0.033−0.261
Ost: einfache Angestellte0.0370.005
Ost: Fach-/Vorarbeiter−0.034−0.506∗
Ost: einfache Arbeiter0.512−0.017
Ost: Selbständige−0.069−0.568∗
einfache Bildung0.4700.474∗
mittlere Bildung0.244∗∗0.106
Ost: einfache Bildung−1.240∗∗−0.277
Ost: mittlere Bildung0.2890.269
Nachkrieg1.816∗∗∗0.487∗
1980+1.769∗∗∗0.671∗∗
Ost: Nachkrieg0.7510.245
Ost: 1980+1.2610.530
männlich−0.081−0.075
Ost: männlich−0.1410.050
Arbeitslosigkeit (5J)1.909∗∗∗1.203∗∗∗
Ost: Arbeitslosigkeit (5J)−0.372−0.101
Kind im HH0.293∗0.457∗∗∗
Ost: Kind im HH0.0320.487∗
männlich: Kind im HH−0.212∗−0.318
Ost/männlich: Kind im HH0.529−0.058
Cutpoint 12.324∗∗∗0.941∗∗∗
Cutpoint 24.368∗∗∗3.441∗∗∗
Cutpoint 35.471∗∗∗5.013∗∗∗
N  17792352
Adj. R2
Pseudo R2(McFadden Adj.)0.0720.039
Pseudo R2(McKelvey & Zavoina)0.2610.155
∅ Ost-West (% sehr unwahrscheinlich)−0.070−0.031

Tabelle 4: Gefühl subjektiver Bedrohung durch Arbeitslosigkeit und Armut


Die linke Spalte von Tabelle 4 zeigt die Ergebnisse für das Item, das sich auf die Angst vor Arbeitslosigkeit bezieht. Dabei ergibt sich eine Besonderheit daraus, dass zum Zeitpunkt der Befragung die übergroße Mehrheit der Vorkriegsgeneration bereits aus dem Erwerbsleben ausgeschieden war. Dies ist insofern unproblematisch, als im ESS-Fragebogen Personen, die nicht der Erwerbsbevölkerung angehören, ausgefiltert werden.11 Die Schätzungen für die Vorkriegsgeneration beziehen sich in diesem Fall deshalb nur auf solche Befragte, die nach eigener Einschätzung noch am Erwerbsleben teilnehmen, d. h. entweder arbeiten oder nach Arbeit suchen.

Dennoch ist es wenig überraschend, dass diese Referenzgruppe sich insgesamt kaum durch Arbeitslosigkeit bedroht fühlt. Dementsprechend werden für die beiden anderen Altersgruppen sehr hohe Koeffizienten geschätzt. Dieser starke Effekt des Alters trägt sicher zu der sehr guten Modellanpassung bei. Auch die persönliche Erfahrung mit Arbeitslosigkeit spielt aber eine wichtige Rolle: In beiden Regionen schätzen Menschen, die innerhalb der letzten fünf Jahre arbeitslos waren, ihr persönliches Risiko als weitaus größer ein als andere Befragte dies tun.


PIC

Abbildung 7: Erwartete Werte für ausgewählte Gruppen: Subjektives Risiko von Arbeitslosigkeit – „sehr unwahrscheinlich“


Ost-West-Unterschiede spielen dabei allerdings kaum eine Rolle. Der AME der Regionszugehörigkeit liegt für die untere Extremkategorie (eigene Arbeitslosigkeit „sehr unwahrscheinlich“) bei nur sieben Prozentpunkten. Abbildung 7 zeigt, dass signifikante Ost-West-Unterschiede nur bei den einfachen Arbeitern, bei Männern mit Kindern im Haushalt und bei den nach 1980 geborenen Befragten auftreten. In allen drei Gruppen fühlen sich die Westdeutschen jeweils deutlich sicherer als ihre Mitbürger aus den neuen Ländern.


PIC

Abbildung 8: Erwartete Werte für ausgewählte Gruppen: Subjektives Risiko von Armut – „sehr unwahrscheinlich“


Die rechte Spalte von Tabelle 4 zeigt die Schätzungen für das Modell zur Vorhersage des subjektiven Armutsrisikos. Auch hier wird eine sehr gute Anpassung an die Daten erreicht. Auffällig sind hier zunächst die starken Effekte der sozialen Klasse: Verglichen mit der (oberen) Dienstklasse schätzen einfache Angestellte und Arbeiter ihr Armutsrisiko als deutlich höher ein. Noch stärker ausgeprägt ist der Effekt der Arbeitslosigkeit. Ebenfalls klar zu erkennen ist ein gender-spezifischer Effekt des Zusammenlebens mit Kindern: Frauen mit Kindern nehmen ihr Risiko als höher wahr als Frauen ohne Kinder. Bei Männern zeigt sich kein solcher Unterschied, was daran zu erkennen ist, dass die männerspezifische Interaktion vom Betrag her etwa dem Haupteffekt entspricht.

Ost-West-Unterschiede sind hingegen von untergeordneter Bedeutung. Der AME für die Antwortkategorie „Armut sehr unwahrscheinlich“ beträgt lediglich drei Prozentpunkte.

Auch hier lassen sich die Implikationen der Modellschätzungen am besten graphisch interpretieren. Abbildung 8 zeigt deshalb die erwarteten Antwortwahrscheinlichkeiten für die Kategorie „sehr unwahrscheinlich“. Hier ist zunächst deutlich zu sehen, dass in keiner der betrachteten Gruppen im statistischen Sinne signifikante Ost-West-Differenzen auftreten. Zweitens zeichnen sich die Effekte der Berufsklasse in beiden Regionen sehr klar ab. Drittens ist im rechten Teil der Grafik die subjektive Bedrohung der Frauen, die mit Kindern zusammenleben, zu erkennen. Es steht zu vermuten, dass dieser Effekt partiell durch die häufig prekäre Situation alleinerziehender Frauen zu erklären ist. Viertens schließlich zeichnet sich in beiden Regionen eine Kluft zwischen der Vorkriegsgeneration, die ihre finanzielle Lage als relativ sicher empfindet, und den jüngeren Altersgruppen ab.

 


, , ; robuste Standardfehler, Bundesländer als Cluster

Geschätzte Anteile von sozialen Gruppen:
ArbeitsloseArme
Ostdeutschland4 .122−1 .870
untere Dienstklasse1.0891.889
einfache Angestellte1 .3472 .674
Fach-/Vorarbeiter4.0504.581
einfache Arbeiter6.3728.037∗∗
Selbständige2.2882.574∗
Ost: untere Dienstklasse0.6161.969
Ost: einfache Angestellte1 .901−1 .823
Ost: Fach-/Vorarbeiter−0.369−2.405
Ost: einfache Arbeiter0.9960.185
Ost: Selbständige2 .121−3 .913
einfache Bildung3.9253.585
mittlere Bildung2.7123.181
Ost: einfache Bildung−0.5553.154
Ost: mittlere Bildung−1.0651.876
Nachkrieg−1.2490.768
1980+0.6372.068
Ost: Nachkrieg2.7213.539
Ost: 1980+−0.8102.617
männlich−4.323∗−4.236
Ost: männlich−1.1271.549
Arbeitslosigkeit (5J)3.3514.977
Ost: Arbeitslosigkeit (5J)−1.687−1.828
Kind im HH1.501−0.498
Ost: Kind im HH−1.6213.709∗∗
männlich: Kind im HH−0.6722.143
Ost/männlich: Kind im HH−3.675−8.213
Konstante17.326∗∗∗15.218∗∗∗
ln(σ)2.614∗∗∗2.677∗∗∗
N  23332328
Pseudo R2(McFadden Adj.)0.0130.011
Pseudo R2(McKelvey & Zavoina)0.1230.116
∅ Ost-West (%)4.3022.255

Tabelle 5: Wahrgenommene Prävalenz sozialer Gruppen


Neben den Items, die sich auf individuelle subjektive soziale bzw. ökonomische Risiken beziehen, enthält der ESS zwei analoge Fragen die auf die Verbreitung dieser Probleme in der Bevölkerung abzielen.12 Auf der im Fragetext angesprochenen Liste waren für den Bereich von Null bis 49 Prozent Intervalle mit einer Breite von jeweils fünf Punkten vorgegeben. Die letzte Kategorie lautete „50 Prozent und mehr“.

Diese Skalierung ist sicherlich für die im Mittel sehr hohen Schätzwerte mitverantwortlich. Zudem stellt sich die Frage nach einer angemessenen Modellierung, da die Intervalle relativ breit sind und das oberste Intervall nach rechts offen ist bzw. eine Breite von 50 Prozentpunkten hat. Für beide Variablen wurden deshalb Intervallregressionen geschätzt, die diesen besonderen Umständen Rechnung tragen. Dies hat den Vorteil, dass die Koeffizienten wie Schätzungen für eine lineare Regression zu interpretieren sind.

Die linke Spalte in Tabelle 5 zeigt die Ergebnisse. Obwohl für die meisten Gruppen Koeffizienten im Bereich von zwei bis sechs Prozentpunkten geschätzt werden, ist nur einer dieser Parameter, nämlich der Effekt des Geschlechts, signifikant von Null verschieden. Dies erklärt sich zum Teil aus der relativ großen Unsicherheit über den Wert, der tatsächlich hinter der Entscheidung für ein Intervall steht, bzw. aus der Breite der Intervalle. Der AME für die regionale Zugehörigkeit liegt bei 4,3 Prozentpunkten, d. h. bei weniger als einer Intervallbreite. Dementsprechend sind in Abbildung 9 auch keine signifikanten Regionaleffekte oder Differenzen innerhalb der Gruppen zu erkennen. Vielmehr überschätzen fast alle Befragten die Arbeitslosenquote in erheblichem Umfang.13


PIC

Abbildung 9: Erwartete Werte für ausgewählte Gruppen: Geschätzte Arbeitslosenquote


Auch die Zahl der Armen wird von den Befragten deutlich überschätzt. Anders als bei der Arbeitslosenquote ist es kaum möglich, amtliche Zahlen darüber zu finden, wieviele Menschen sich „Güter des täglichen Bedarfs“ nicht leisten können. Die Zahl der Bezieher von Hartz IV-Leistungen ist aber als brauchbare Annäherung zu betrachten. Diese lag im Befragungszeitraum bei rund 6,7 Millionen Menschen. Selbst wenn man von einer Dunkelziffer im Bereich von 50 Prozent ausgeht, ergäbe sich daraus ein Bevölkerungsanteil14 von maximal 12 Prozent. Dies entspricht in etwa auch den Werten, die Lohmann und Gießelmann (2010, S. 302) auf Grundlage des SOEP errechnen. Hingegen liegt der Median der von den Befragten geschätzten Werte im vierten Intervall (15-19 Prozent).

Die rechte Spalte von Tabelle 5 zeigt die vollständigen Modellschätzungen. Signifikante Effekte ergeben sich hier nur für die einfachen Arbeiter, die Selbständigen und die Ostdeutschen mit Kindern. Der AME der Regionalzugehörigkeit liegt bei nur rund zwei Prozentpunkten.


PIC

Abbildung 10: Erwartete Werte für ausgewählte Gruppen: Geschätzte Armutsquote


Aus Abbildung 10 lässt sich ablesen, dass sich die sozialen Gruppen und die beiden Regionen in ihrer Einschätzung der Armutsquote im Grunde kaum voneinander unterscheiden. Zudem sind die erwarteten Werte mit relativ breiten Konfidenzintervallen behaftet.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass zumindest zum Zeitpunkt der Befragung das Ausmaß der sozialen Probleme in Deutschland von den Befragten relativ deutlich überschätzt wurde. Dabei lassen sich kaum systematische Muster nachweisen. Die subjektive Bedrohung durch Arbeitslosigkeit und Armut hingegen wird klar von individuellen Merkmalen wie der Berufsklasse, vorausgegangener Arbeitslosigkeit und der Kohortenzugehörigkeit beeinflusst, die auch objektiv einen Effekt auf diese Risiken haben. Ost-West-Differenzen spielen unter Kontrolle dieser Variablen so gut wie keine Rolle mehr.

2.2.4 Nichtintendierte Folgen

Sozialpolitische Konflikte sind stets auch Verteilungskonflikte. Die öffentliche Debatte konzentriert in der Regel jedoch auf Fragen des Missbrauchs, der Fehlsteuerung und der Kapazität des Systems. Auch zu diesen Punkten enthält der ESS eine Reihe von Items, die in diesem und im folgenden Abschnitt analysiert werden. Eine erste Gruppe von Fragen bezieht sich dabei auf das Ausmaß des Sozialbetrugs beim Arbeitslosen- und Krankengeld.15

 


, , ; robuste Standardfehler, Bundesländer als Cluster

Unberechtigter Bezug von …
ALGKrankengeld
Ostdeutschland−0.007−0.561∗∗
untere Dienstklasse0.289∗∗∗0.141
einfache Angestellte0.382∗∗0.151
Fach-/Vorarbeiter0.945∗∗∗0.633∗∗
einfache Arbeiter0.807∗∗∗0.500
Selbständige1.003∗∗∗0.582∗∗
Ost: untere Dienstklasse−0.1670.416
Ost: einfache Angestellte−0.1780.226
Ost: Fach-/Vorarbeiter−0.396−0.405
Ost: einfache Arbeiter−0.3120.373
Ost: Selbständige−0.2260.155
einfache Bildung0.686∗∗0.437∗
mittlere Bildung0.268∗0.253
Ost: einfache Bildung−0.421−0.738∗
Ost: mittlere Bildung−0.075−0.319
Nachkrieg−0.366∗∗∗−0.060
1980+−0.0860.164
Ost: Nachkrieg0.448∗0.039
Ost: 1980+0.3410.619∗∗
männlich−0.1000.209
Ost: männlich−0.153−0.211
Arbeitslosigkeit (5J)−0.074−0.267
Ost: Arbeitslosigkeit (5J)−0.480∗∗−0.012
Kind im HH−0.0340.096
Ost: Kind im HH−0.062−0.192
männlich: Kind im HH0.067−0.482∗∗∗
Ost/männlich: Kind im HH0.0311.010∗∗∗
Cutpoint 1−2.689∗∗∗−1.912∗∗∗
Cutpoint 2−0.1240.618∗∗∗
Cutpoint 31.016∗∗∗1.627∗∗∗
Cutpoint 43.186∗∗∗4.290∗∗∗
N  23532335
Pseudo R2(McFadden Adj.)−0.001−0.003
Pseudo R2(McKelvey & Zavoina)0.0560.056
∅ Ost-West (% lehne stark ab)0.0020.047

Tabelle 6: Wahrgenommene Häufigkeit von Sozialbetrug


Die linke Spalte von Tabelle 6 zeigt die Schätzungen für ein entsprechendes ordinales Logit-Modell. Zunächst ist hier festzuhalten, dass das Modell insgesamt die empirische Verteilung der Antworten nur schlecht erklären kann. Zweitens gibt es hier in der Problemwahrnehmung von Ost- und Westdeutschen so gut wie keine Unterschiede: In beiden Regionen unterstellt eine Minderheit von etwa einem Drittel der Befragten den Arbeitslosen, dass diese in Wirklichkeit nicht arbeiten wollten. Bezogen auf die Kategorie „lehne stark ab“ beträgt die mittlere geschätzte Differenz zwischen Ost und West nur 0,2 Prozentpunkte.


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Abbildung 11: Erwartete Werte für ausgewählte Gruppen: Arbeitslose wollen nicht arbeiten – Wahrscheinlichkeit „stimme zu“


Abbildung 11, in der die erwarteten Anteilswerte für die Ausprägung „stimme zu“ eingetragen sind, bestätigt diesen Eindruck. Zugleich zeigt die Grafik, dass es zumindest in Westdeutschland in der Beurteilung von Arbeitslosen sehr deutliche und auch statistisch signifikante Klassen- und Bildungsunterschiede gibt: Arbeiter und Selbständige beurteilen die angeblich fehlende Motivation der Arbeitslosen sehr viel kritischer als (leitende) Angestellte.

Etwas anders stellt sich die Lage bei der Einschätzung des Krankenstandes dar. Wie sich aus der rechten Spalte von Tabelle 6 ablesen lässt, beträgt der AME (berechnet für die Ausprägung „lehne stark ab“) hier knapp fünf Prozentpunkte.


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Abbildung 12: Erwartete Werte für ausgewählte Gruppen: Kranke nicht wirklich krank – Wahrscheinlichkeit „lehne stark ab“


Auch hier spielen Klassen- und Bildungseffekte eine gewisse Rolle. Diese sind aber – ebenso wie die Ost-West-Differenzen – nur in wenigen Fällen signifikant, wie in Abbildung 12 abzulesen ist.

 


, , ; robuste Standardfehler, Bundesländer als Cluster

%3

Negative Folgen …
für WirtschaftFaulheitGleichgültigkeit
Ostdeutschland−0.022−0.281−0.417∗
untere Dienstklasse0.0170.305∗∗∗0.361∗∗
einfache Angestellte0.1280.1720.172
Fach-/Vorarbeiter0.0670.542∗∗∗0.475∗∗∗
einfache Arbeiter0.1990.758∗∗∗0.525∗∗∗
Selbständige0.470∗∗0.774∗∗0.781∗∗
Ost: untere Dienstklasse0.122−0.0860.044
Ost: einfache Angestellte0.115−0.294−0.443
Ost: Fach-/Vorarbeiter0.233−0.308−0.416∗
Ost: einfache Arbeiter0.341−0.282−0.309
Ost: Selbständige0.488−0.291−0.448
einfache Bildung0.2360.530∗∗−0.137
mittlere Bildung0.274∗0.189∗0.091∗
Ost: einfache Bildung−0.927∗−1.225∗∗∗−0.339
Ost: mittlere Bildung−0.646∗∗−0.1720.021
Nachkrieg0.007−0.165−0.426∗∗
1980+−0.212−0.058−0.408∗∗∗
Ost: Nachkrieg−0.1150.412∗0.385
Ost: 1980+0.3331.122∗∗0.797∗
männlich0.0670.1340.190∗
Ost: männlich−0.187−0.334−0.261
Arbeitslosigkeit (5J)−0.176−0.166−0.161
Ost: Arbeitslosigkeit (5J)−0.067−0.522∗∗−0.286