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    Arzheimer, Kai. "Wahlverhalten in Ost-West-Perspektive." Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 2013. Eds. Schoen, Harald and Bernhard Weßels. Springer VS, 2016. 71–89. doi:10.1007/978-3-658-11206-6_4
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Wahlverhalten in Ost-West-Perspektive (Bundestagswahl 2013)

1. Einleitung und Fragestellung: Eine Nation – zwei (oder mehr?) Wahlregionen

Die Bundestagswahl vom September 2013 fand fast ein Vierteljahrhundert nach der friedlichen Revolution statt und war bereits der siebte gesamtdeutsche Urnengang. Dennoch zeigen sich wie schon bei den bisherigen Bundestagswahlen markante Unterschiede im Wahlverhalten von Ost- und Westdeutschen.

In der Forschungsliteratur wurde bereits Mitte der 1990er Jahre auf solche dauerhafte und charakteristische Unterschiede im Wahlverhalten von Ost- und Westdeutschen hingewiesen (Falter und Klein 1994; Dalton und Bürklin 1995; Pickel et al. 1998). Als mögliche Ursachen für diese Unterschiede wurden und werden zwei Gruppen von Faktoren diskutiert, die sich zumindest analytisch voneinander unterscheiden lassen: Situative Einflüsse sind zumindest prinzipiell kurzfristig veränderbar und betreffen etwa regionale Unterschiede in der Wirtschaftsentwicklung oder der Dynamik des Arbeitsmarktes. Strukturelle Faktoren hingegen sind mittel- und vermutlich auch langfristig stabil.

Dieser Artikel gehört zu einer Serie von Beiträgen über die politischen Ost-West-Unterschiede in Deutschland

Unter diesen strukturellen Faktoren sind an erster Stelle die Sozialisationsbedingungen vor und nach der Wiedervereinigung zu nennen, die zu charakteristischen Unterschieden in der Verteilung politischer Einstellungen geführt haben (Fuchs 1996, 1999; Finkel et al. 2001; Arzheimer 2012; Fuchs und Roller 2013) und als politische Regionalkulturen interpretiert werden können (Schneider 2013). Hinzu kommen dauerhafte Unterschiede in der Verteilung sozialstruktureller Merkmale, die aufgrund der in Deutschland vorherrschenden cleavages eng mit politischen Grundpräferenzen und damit dem Wahlverhalten verbunden sind (Arzheimer und Schoen 2007). Trotz fortschreitender Modernisierungs- und Säkularisierungsprozesse ist in Ostdeutschland der Anteil der Personen, die sich selbst als “Arbeiter” betrachten, nach wie vor deutlich höher als in den alten Ländern, während der Anteil an (praktizierenden) Christen und insbesondere Katholiken weitaus niedriger liegt als im Westen.

Situative und Sozialisationsfaktoren werden gemeinsam für die je unterschiedlichen Muster im Wahlverhalten von Ost- und Westdeutschen verantwortlich gemacht. Diese kommen zustande, weil (1) Determinanten des Wahlverhaltens in beiden Regionen unterschiedlich verteilt sind oder (2) diese Determinanten regional unterschiedliche Wirkungen entfalten. Dabei sollte allerdings nicht übersehen werden, dass auch innerhalb der Großregionen Ost- und Westdeutschland erhebliche Unterschiede bezüglich der politischen Einstellungen bestehen, die für beträchtliche regionale Unterschiede im Wahlverhalten bzw. in der Ausgestaltung des Parteiensystems mitverantwortlich sind (Pappi und Shikano 2003; Niedermayer 2009).

Ziel dieses Kapitels ist es vor diesem Hintergrund zunächst, im folgenden Abschnitt das Ausmaß der Ost-West-Differenzen beschreibend zu erfassen. Im Anschluss daran werden sowohl für die Wahlbeteiligung als auch für die Wahlentscheidung Hypothesen über deren Ursachen getestet. Eine besondere Rolle spielen dabei naturgemäß wie schon in den früheren Ausgaben dieses Bandes (Arzheimer und Falter 2005; Kaspar und Falter 2009; Arzheimer und Falter 2013) die Wähler der Linken.

2. Das Wahlergebnis in Ost-West-Perspektive

In ihrer Studie zur Bundestagswahl 1998 hatten Arzheimer und Falter (1998) vorgeschlagen, die Ost-West-Unterschiede im Wahlverhalten mit einer Variante des bekannten Pedersen-Index (Pedersen 1983) zu quantifizieren. Dazu werden getrennt für die Unionsparteien, die SPD, die FDP, die Grünen, die Linke, die Gruppe aller “sonstigen” Parteien sowie die Nichtwähler die absoluten Prozentpunktdifferenzen zwischen dem Ergebnis der alten und der neuen Bundesländer aufsummiert und das Ergebnis durch zwei geteilt. Als Prozentuierungsbasis dient jeweils die Anzahl der Wahlberechtigten, um die Unterschiede in der Mobilisierung sichtbar zu machen. Im Land Berlin werden dabei die Wahlkreise im früheren Ostteil sowie die “gemischten” Wahlkreise “Berlin-Mitte” und “Berlin-Friedrichshain – Kreuzberg – Prenzlauer Berg Ost” den neuen Ländern, die Kreise in den ehemaligen westlichen Sektoren hingegen den alten Ländern zugerechnet.

Abbildung 1: Pedersen-Index für die Bundestagswahlen 1990-2013

Wahlverhalten in Ost-West-Perspektive (Bundestagswahl 2013) 2

Das Ergebnis dieser Berechnung ist eine Maßzahl, die hypothetisch Werte zwischen 0 (keine Ost-West-Unterschiede) und 100 (es gibt ausschließlich regional verankerte Parteien) annehmen kann. Für die Bundestagswahl 2013 erreicht der Index einen Wert von 17.3 und liegt damit deutlich niedriger als bei allen Bundestagswahlen von 1994 bis 2009 (vgl. Abbildung 1)1. Insbesondere beim Stimmenanteil der “sonstigen” Parteien (d.h. primär der AfD und der NPD) sind die globalen Unterschiede zwischen Ost und West relativ gering. Relevante Variationen treten hier vor allem innerhalb der Regionen auf. Auch die Unterschiede in der Aggregatvolatilität, die angibt, wie viele Wahlberechtigte (unter Vernachlässigung von Zu- und Abgängen) von Urnengang zu Urnengang mindestens ihr Wahlverhalten geändert haben müssen, haben sich nivelliert: Mit Werten von 8.5 bzw. 10.4 erreicht der Index in Westdeutschland seinen zweithöchsten, in Ostdeutschland hingegen seinen zweitniedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung. Diesen relativ geringen Unterschieden zwischen den beiden Regionen stehen beträchtliche Differenzen innerhalb der alten bzw. der neuen Länder gegenüber (vgl. Abbildung 2).

Abbildung 2: Boxplot Aggregatvolatilität in West und Ost, Bundestagswahl 2013

Wahlverhalten in Ost-West-Perspektive (Bundestagswahl 2013) 3

Abbildung 3: Boxplot Anteil Nichtwähler in West und Ost, Bundestagswahl 2013

Wahlverhalten in Ost-West-Perspektive (Bundestagswahl 2013) 4

Dennoch bestehen weiterhin sehr deutliche Diskrepanzen zwischen den Ergebnissen beider Landesteile. Diese gehen auf eine Reihe von Faktoren zurück, die sich in ähnlicher Form bereits bei den vergangenen gesamtdeutschen Bundestagswahlen gezeigt haben.

Erstens hat sich der Anteil der Nichtwähler hat sich in den neuen Ländern gegenüber 2009 wieder etwas reduziert, liegt aber immer noch fünf Punkte über dem Wert für Westdeutschland. Diese einfache Mittelwertdifferenz unterschätzt zudem das wahre Ausmaß der Unterschiede: Obwohl es auch im Westen (vor allem in Bayern, Nordrhein-Westfalen und den Hansestädten) einige Wahlkreise mit sehr hohen Nichtwähleranteilen gibt, liegt der Nichtwähleranteil in 75 Prozent der westlichen Kreise unterhalb von 29 Prozent. In Ostdeutschland hingegen liegt der Anteil der Nichtwähler in 75 Prozent der Kreise oberhalb von 30 Prozent (siehe Abbildung 3).

Zweitens schneiden SPD und Union in Ostdeutschland deutlich schwächer ab als im Westen. Bei der Bundestagswahl 2013 betrug die Differenz für die Union knapp fünf, für die SPD fast acht Prozentpunkte. Setzt man west- und ostdeutsche Stimmenanteile ins Verhältnis, so erreichte die Union in den neuen Ländern nur rund 80, die SPD sogar nur rund 60 Prozent ihrer westdeutschen Mobilisierungsquote. Dies gilt in ähnlicher Weise auch für Bündnis 90/Die Grünen und für die FDP, die in den neuen Ländern nur 55 bzw. 49 Prozent ihrer westlichen Mobilisierungsquoten realisieren konnten.

Drittens bleibt das Abschneiden der Linken das Gegenstück zu dieser relativen Schwäche der Parteien, die bereits in der alten Bundesrepublik existierten. Die Linke erzielte in der östlichen Region ein knapp elf Prozentpunkte besseres Ergebnis als im Westen. 23 Jahre nach dem Ende der DDR und sechs Jahre nach dem Zusammenschluss von PDS und WASG erreicht die Partei damit in den neuen Ländern eine fast viermal so große Mobilisierungsrate wie im Westen. Gegenüber der Bundestagswahl 2009, bei der die Linke in Ostdeutschland etwa dreimal so erfolgreich war wie in den alten Ländern, hat sich die Schere zwischen den ost- und westdeutschen Ergebnissen somit wieder etwas weiter geöffnet. Anders als noch 2009 reichen die Resultate der Linken 2013 selbst in den westdeutschen Hochburgen kaum an die schwächsten Ergebnisse in Ostdeutschland heran (siehe Abbildung 4 und 5), was sicher auch mit dem Rückzug Oskar Lafontaines aus der Parteispitze zu tun hat.

Abbildung 4: Zweitstimmenanteil der Linkspartei auf Wahlkreisebene, Bundestagswahl 2013

Wahlverhalten in Ost-West-Perspektive (Bundestagswahl 2013) 5

Obwohl in der Vergangenheit teils noch weitaus dramatischere Unterschiede zu beobachten waren – so erreichte die PDS zwischen 1990 und 2005 höchstens 0.9 Prozent der westdeutschen Wahlberechtigten und damit maximal ein Dreizehntel ihres ostdeutschen Wähleranteils – sind diese Diskrepanzen keineswegs nur von akademischem Interesse. So lag die FDP in den westdeutschen Wahlkreisen mit 5.1 Prozent der gültigen Stimmen knapp über der Fünfprozenthürde und ist somit letztlich am Wahlverhalten der Ostdeutschen gescheitert. Im Ergebnis hätte die schwarz-gelbe Koalition in den alten Ländern mit reduzierter Mehrheit weiterregieren können. Im Osten hingegen wäre der AfD mit einem Anteil von 5.8 Prozent der gültigen Zweitstimmen der Einzug in den Bundestag gelungen, und die Partei hätte mehr Sitze gewonnen als Bündnis 90/Die Grünen. Zugleich schnitt hier wie schon bei der Wahl von 2009 die Linke deutlich stärker ab als die SPD. Auch für die Bundestagswahl 2013 ist es deshalb gerechtfertigt, von zwei deutschen Elektoraten (Dalton und Bürklin 1995) zu sprechen.

3. Determinanten der Wahlbeteiligung im Ost-West-Vergleich

Eine niedrige Wahlbeteiligung wird häufig als problematisch betrachtet, nicht zuletzt, weil sie in der Regel zu einer ungleichen Repräsentation gesellschaftlicher Interessen führt (Lijphart 1997). In der Vergangenheit waren in Ostdeutschland vor allem bei Landtagswahlen teils sehr niedrige Beteiligungsraten zu verzeichnen (Arzheimer und Falter 2005). Auf nationaler Ebene markiert die Bundestagswahl 2009, bei der mehr als ein Drittel der ostdeutschen Wahlberechtigten auf ihr Wahlrecht verzichtet haben, den bisherigen Tiefpunkt dieser Entwicklung.

Wie im vorherigen Abschnitt skizziert, ist die ostdeutsche Wahlbeteiligung 2013 wieder leicht angestiegen, sodass sich die Lücke zwischen Ost und West auf fünf Prozentpunkte (72.5 vs. 67.6 Prozent) reduziert hat. Mit den Daten der GLES (Vorwahlbefragung) wird für beide Landesteile eine deutlich höhere Wahlbeteiligung Prozent geschätzt (ungewichtete Daten). Ein solches overreporting der Wahlbeteiligung ist in Umfragen üblich und erklärt sich durch den Effekt der sozialen Erwünschtheit, die höhere Bereitschaft politisch interessierter Bürger, sich an Wahlen und Umfragen zu beteiligen, und die tatsächliche Unsicherheit über das zukünftige Verhalten2.

Interessanter als eine exakte Replikation der Wahlbeteiligungsraten ist jedoch die Frage, welche Motive und Merkmale hinter der Wahlbeteiligung stehen, und ob sich deren Wirkung in Ost und West unterscheidet. Aus der Nichtwählerforschung ist bekannt, dass politisches Interesse, Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie, das Vorliegen von Parteibindungen, die Wahrnehmung einer Wahlbeteiligungsnorm sowie die soziale Integration der Wahlberechtigten einen positiven Effekt auf die Wahlbeteiligung haben. Darüber hinaus lassen sich oft selbst unter Kontrolle dieser Variablen Effekte der formalen Bildung, des Geschlechtes und des Lebensalters nachweisen (Caballero 2005, 2014). Letztere werden oft als Kohorten- bzw. Sozialisationseffekte interpretiert, können aber auch das Resultat unterschiedlicher Interessenlagen der verschiedenen Altersgruppen sein (Arzheimer 2006).

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die niedrigere Wahlbeteiligung der Ostdeutschen primär auf eine unterschiedliche Zusammensetzung der Elektorate zurückgeht, oder ob Merkmale, die im Westen die Wahlbeteiligung steigern, in den neuen Ländern eine schwächere Wirkung entfalten. So wäre es denkbar, dass die Wahlbeteiligung in Ostdeutschland niedriger ist, weil weniger Menschen sich den Parteien verbunden fühlen und der Grad der politischen Unzufriedenheit höher ist. Möglich wäre es aber auch, dass Parteibindungen und politische Zufriedenheit in Ostdeutschland aufgrund unterschiedlicher Sozialisationserfahrungen weniger eng mit dem Wahlakt verknüpft sind.

Um diese Frage zu untersuchen, wurde mit den Vorwahldaten der GLES ein binär-logistisches Modell der Wahlbeteiligung geschätzt, das die wichtigsten der aus der Nichtwählerforschung bekannten Einflussfaktoren enthält: Neben den Kontrollvariablen Alter, Geschlecht und Bildung sind dies auf der Einstellungsebene die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland und das politische Interesse. Hinzu kommen die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft, die Häufigkeit des Gottesdienstbesuches (selten oder nie vs. mehrmals im Jahr vs. häufig) sowie die Haushaltsgröße (Einpersonenhaushalte vs. Mehrpersonenhaushalte) als Indikatoren für den Grad der sozialen Integration3.

Die Querschnittsbefragungen der GLES basieren auf dem ADM-Mastersample, d.h. auf einer mehrstufigen Zufallsauswahl. Um dem Rechnung zu tragen, wurden die in Stata 13 implementierten Survey-Kommandos sowie die für die GLES errechneten kombinierten Haushalts-, Transformations- und Designgewichtete genutzt. Die beiden Regionen wurden dabei als Strata, die 244 sampling points der Vorwahluntersuchung als erste Auswahlebene definiert. Da es sich bei diesen sampling points um Stimmbezirke handelt und pro Wahlkreis in der Regel in höchstens zwei Stimmbezirken interviewt wurde, wird auf diese Weise die politische Kontextstruktur der Bundestagswahl berücksichtigt4.

Geschätzt wurden drei Varianten des Modells, die drei verschiedenen Hypothesen über die Ursachen von Ost-West-Unterschieden entsprechen. In der ersten und komplexesten Variante wird davon ausgegangen, dass sich sowohl das allgemeine Niveau der Wahlbeteiligung als auch die Stärke der Effekte, die auf die individuelle Beteiligungsabsicht wirken, zwischen beiden Regionen unterscheiden, also ein Interaktionseffekt zwischen den verschiedenen Individualmerkmalen einerseits und der Region andererseits besteht. Das Gegenstück zu diesem “Interaktionsmodell” ist ein “Kompositionsmodell”, das davon ausgeht, dass die Ost-West-Unterschiede ausschließlich darauf zurückgehen, dass sich das ostdeutsche und das westdeutsche Elektorat in ihrer Zusammensetzung unterscheiden. Das “Residualmodell” stellt einen Kompromiss zwischen diesen beiden Spezifikationen dar. Aus seiner Perspektive gibt es keinen qualitativen Unterschied zwischen den Wirkungsmechanismen in Ost und West; es bleibt aber ein Unterschied im Niveau der Wahlbeteiligung bestehen, der sich nicht vollständig auf die je unterschiedliche Komposition der Elektorate reduzieren lässt.

Tabelle 1: Determinanten der Wahlbeteiligung 2013

(1Interaktion)

(2 Residual)

(3 Komposition)

Mann

-0.1

-0.2

-0.2

(0.2)

(0.2)

(0.2)

Ost

1.6

0.3

(2.0)

(0.2)

Mann X Ost

-0.3

(0.4)

Bildung: mittel

0.6*

0.7**

0.7**

(0.3)

(0.2)

(0.2)

Bildung: hoch

1.5**

1.3***

1.3***

(0.5)

(0.4)

(0.4)

Bildung: mittel X Ost

0.3

(0.5)

Bildung: hoch X Ost

-0.5

(0.7)

PI vorhanden

1.2***

1.2***

1.2***

(0.2)

(0.2)

(0.2)

PI vorhanden X Ost

0.0

(0.4)

Zufriedenheit: Demokratie

0.4**

0.4***

0.4***

(0.1)

(0.1)

(0.1)

Ost X Zufriedenheit: Demokratie

0.1

(0.2)

Alter X Alter

0.0

0.0

0.0

(0.0)

(0.0)

(0.0)

Alter

0.0

0.0

0.0

(0.0)

(0.0)

(0.0)

Ost X Alter X Alter

-0.0

(0.0)

Ost X Alter

0.0

(0.1)

Kirchgang: gelegentlich

0.4

0.5*

0.5

(0.3)

(0.2)

(0.2)

Kirchgang: haeufig

-0.2

-0.1

-0.1

(0.3)

(0.3)

(0.3)

Kirchgang: gelegentlich X Ost

0.6

(0.4)

Kirchgang: haeufig X Ost

0.2

(0.6)

Gewerkschaftsmitglied

0.2

0.0

0.0

(0.3)

(0.3)

(0.3)

Gewerkschaftsmitglied X Ost

-0.6

(0.5)

Einpersonenhaushalt

-0.1

-0.1

-0.1

(0.2)

(0.2)

(0.2)

Einpersonenhaushalt X Ost

0.1

(0.3)

Politikinteresse

1.4***

1.3***

1.3***

(0.2)

(0.1)

(0.1)

Ost X Politikinteresse

-0.6*

(0.2)

Konstante

-5.6***

-5.3***

-5.3***

(1.0)

(0.9)

(0.9)

N

1752.0

1752.0

1752.0

AICW

1195.5

1189.7

1188.9

Anmerkungen:Einträge sind unstandardisierte binär-logistische Koeffizienten. Wertebeereich der unabhängigen Variablen: Bildung 1-3 (bis Hauptschulabschluss – Mittlere Reife – Fachhochschulreife und höher); Demokratiezufriedenheit 1-5 (sehr unzufrieden bis sehr zufrieden); Alter 17-100; Kirchgangshäufigkeit 0-2 (selten/einmal pro Jahr – mehrmals pro Jahr – einmal im Monat und häufiger) – ; Politikinteresse 1-5 (überhaupt nicht bis sehr stark interessiert); Ost (neue Länder plus Berlin), PI, Gewerkschaftsmitgliedschaft; Einpersonenhaushalt 0-1. Standardfehler in Klammern und Parameterschätzungen berücksichtigen die von der GLES bereitgestellten Informationen zur Stichprobenziehung. Signifikanzniveaus: * p < 0.05; ** p < 0.01; *** p < 0.001.

Tabelle 1 zeigt zunächst, dass sich die Parameterschätzungen über die drei Spezifikationen hinweg kaum unterscheiden. Mittlere und vor allem höhere formale Bildung steigern die (berichtete) Wahlbeteiligung sehr deutlich. Noch stärker ausgeprägt ist der positive Effekt, der vom Vorhandensein einer Parteibindung ausgeht. Haushaltsgröße und Gewerkschaftsmitgliedschaft als Indikatoren sozialer Integration haben hingegen keinen signifikanten Einfluss auf die Wahlteilnahme, während der Effekt des Gottesdienstbesuches ambivalent ist (und sich am Rande der statistischen Signifikanz bewegt): Gelegentliche Kirchgänger beteiligen sich häufiger als Personen, die regelmäßig oder selten bzw. nie am Gottesdienst teilnehmen. Einen leicht positiven Effekt, der sich in den ältesten Generationen etwas abschwächt, hat darüber hinaus das Lebensalter.

Den mit Abstand stärksten Effekt haben aber die beiden Einstellungsvariablen Politikinteresse und Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland. So erhöht (unabhängig von der gewählten Modellierungsvariante) ein sehr hoher (5 Skalenpunkte) gegenüber einem sehr niedrigen (1 Skalenpunkt) Grad der Zufriedenheit die Wahrscheinlichkeit der Wahlbeteiligung um fast zwanzig Prozentpunkte auf mehr als 86 Prozent. Ein großes (5) Interesse an politischen Fragen erhöht gegenüber einem minimalen (1) Interesse die Wahlbeteiligungswahrscheinlichkeit sogar um 40 Prozentpunkte von 46 auf mehr als 98 Prozent.5

Die Schätzungen der Haupteffekte sind über die drei Spezifikationen hinweg fast identisch. Welcher der drei Modellierungsvarianten sollte nun der Vorzug gegeben werden? Wegen der großen Zahl von Produkttermen ist das Interaktionsmodell weitaus komplexer als das Residual- oder das Kompositionsmodell. Mit Hilfe von Informationsmaßen (AIC, BIC) lässt sich überprüfen, ob diese zusätzliche Komplexität durch eine entsprechend bessere Anpassung des Modells an die Daten zu rechtfertigen ist. Bei der Betrachtung konkurrierender Modelle sollte dabei demjenigen mit dem kleinsten Wert der Vorzug gegeben werden. Allerdings ist die Berechnung von AIC und BIC in Stata 13 bei Verwendung der Survey-Schätzverfahren aufgrund der besonderen Form der Varianzschätzung nicht möglich. Ersatzweise wurde deshalb unter Rückgriff auf in der Stata-Erweiterung MIINC (Luchman 2014) enthaltenen Code das für Survey-Daten gewichtete AIC (AICW, siehe Scott 2013) herangezogen.

Aus den nicht-signifikanten Interaktionseffekten in Tabelle 1 lässt sich ablesen, dass sich die Modelle insgesamt nur geringfügig unterscheiden. Dementsprechend weist das Kompositionsmodell mit seiner sehr einfachen Struktur das günstigste AICW auf, wobei die Unterschiede zum Residualmodell gering sind. Inhaltlich bedeutet dies, dass die niedrigere Wahlbeteiligung in Ostdeutschland primär auf die geringere Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie, das niedrigere Politikinteresse, den kleineren Anteil parteigebundener Bürger, sowie den etwas geringeren Anteil an formal hochgebildeten Wählern zurückgeht.

4. Die Wahlentscheidung in beiden Regionen

Wie oben dargelegt, unterscheiden sich beide Regionen nicht nur bezüglich der Wahlbeteiligung sondern auch bei der Wahlentscheidung nach wie vor sehr deutlich. Hierfür sind grundsätzlich zwei Erklärungen denkbar: Zum einen könnte das politische Angebot unterschiedlich wahrgenommen werden. Dies betrifft vor allem die Linke, deren Vorgängerpartei PDS im Westen kaum präsent, im Osten hingegen auf Landesebene ein prominenter und wichtiger Akteur war. Zum anderen ist klar, – und darauf konzentriert sich die Forschung der letzten beiden Dekaden – dass sich die Struktur der Politiknachfrage zwischen beiden Landesteilen sehr deutlich unterscheidet. Für die Bundestagswahl 2009 haben Arzheimer und Falter

Abbildung 6: Multidimensionale Skalierung der impliziten Ähnlichkeitsurteile über die Parteien auf Grundlage der Sympathieskalometer (alte Bundesländer)

Wahlverhalten in Ost-West-Perspektive (Bundestagswahl 2013) 6

Abbildung 7: Multidimensionale Skalierung der impliziten Ähnlichkeitsurteile über die Parteien auf Grundlage der Sympathieskalometer (neue Bundesländer und Berlin)

Wahlverhalten in Ost-West-Perspektive (Bundestagswahl 2013) 7

(2013: 132-134) gezeigt, dass trotz einiger interessanter Unterschiede im Detail die Konfiguration des Parteiensystems in Ost- und Westdeutschland mittlerweile sehr ähnlich wahrgenommen wird. Dies gilt im Grundsatz auch für die Bundestagswahl 2013. Zwar zeigen sich in den Daten der Wahlstudie insbesondere bei der Linken, aber auch bei der AfD weiterhin systematische Ost-West-Unterschiede bezüglich der Einordnung der Parteien auf der allgemeinen Links-Rechts-Skala sowie auf themen- bzw. politikfeldspezifischen Skalen, die vermutlich durch Projektionseffekte (Merrill et al. 2001) zu erklären sind. Eine Multidimensionale Skalierung über die impliziten Ähnlichkeitsurteile, die sich aus den Sympathieskalometern ableiten lassen (Arzheimer und Falter 2013: 133), zeigt aber für beide Regionen ein sehr ähnliches Bild (vgl. Abbildungen 6 und 7): FDP und Union werden als (rechtes) Regierungslager wahrgenommen, SPD, Grüne und Linke bilden das etwas heterogenere (linke) Oppositionslager, während die AfD als neue Partei relativ weit entfernt von beiden Gruppen positioniert wird. Unterschiedliche Wahrnehmungen des Parteiensystems können deshalb nicht maßgeblich für die Unterschiede im Wahlverhalten verantwortlich sein6. Vielmehr müssen diese auf die weitgehend bekannten Unterschiede auf der Nachfrageseite zurückgehen.

Tabelle 2 (die wiederum auf den in Stata 13 implementierten Survey-Schätzern und der Anwendung aller in den GLES-Daten enthaltenen Gewichte basiert) zeigt, dass die bei früheren Wahlen zu verzeichnenden Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschland auch 2013 stark ausgeprägt waren. Dies betrifft einerseits die kurz- und mittelfristigen Faktoren. So wurde in den neuen Ländern die Wirtschaftslage negativer, die Leistungen der schwarz-gelben Bundesregierung aber insgesamt etwas positiver bewertet als im Westen. Auch die Euro-Schuldenkrise löst hier (noch) weniger Beunruhigung aus als in den alten Ländern. Vor allem aber war Gregor Gysi als (alleiniger) Spitzenkandidat der Linken in den neuen Ländern im Mittel sehr viel beliebter als in den alten.

Zugleich zeigen sich aber auch bei den langfristig stabilen Dispositionen weiterhin substantielle Unterschiede zwischen den Regionen. Diese betreffen zunächst die Prävalenz und Verteilung der Parteiidentifikationen, aber auch die Links-Rechts-Selbsteinstufung, die relative Gewichtung von Steuern und Sozialleistungen, sowie den Wunsch nach staatlichen Eingriffen zur Herstellung einer “gerechteren” Einkommensverteilung. Gegenüber den Ergebnissen früherer Studien stark abgeschwächt haben sich die regionalen Unterschiede in der Bewertung des Sozialismus als Ordnungsprinzip. Geradezu dramatisch hingegen ist die (noch) stärkere Ablehnung des Zuzugs von Ausländern durch die Ostdeutschen.

Tabelle 2: Ost-West-Unterschiede in den politischen Einstellungen (Einträge: Skalenpunkte bzw. Prozente)

Einstellung

West

Ost

Allgemeine Wirtschaftslage gut

3.5

3.5

Zufriedenheit Regierung

6.1

6.7

Schuldenkrise: Angst

3.3

2.6

Bewertung Merkel

7.3

7.6

Bewertung Steinbrück

6.5

6.4

Bewertung Brüderle

4.9

5.0

Bewertung Trittin

5.4

5.4

Bewertung Gysi

5.5

6.8

PI CDU/CSU

33.1

29.9

PI SPD

24.8

17.2

PI FDP

2.1

1.7

PI B90/Grüne

10.9

7.2

PI Linke

4.0

14.2

PI: alle

78.6

72.8

Links-Rechts-Selbsteinstufung

5.5

4.9

Sozialismus gute Idee

2.9

3.0

Steuern/Sozialleistungen

5.8

6.0

Ablehnung: Zuwanderung

6.5

7.3

Gerechte Gesellschaft

4.3

4.4

Eintragungen sind Prozentwerte (Anteile mit entsprechender PI) bzw. Mittelwerte, bei deren Berechnung die von der von der GLES bereitgestellten Informationen zur Stichprobenziehung berücksichtigt wurden. Wertebereiche: Wirtschaftslage: 1-5 (sehr schlecht bis sehr gut); Zufriedenheit mit Leistungen der Bundesregierung: 1-11 (sehr unzufrieden bis sehr zufrieden); Angst vor Auswirkungen der Euro-Schuldenkrise 1-5 (überhaupt keine bis sehr große Angst); Bewertungen Spitzenkandidaten 1-11 (halte überhaupt nichts bis halte sehr viel von diesem Politiker); Links-Rechts-Selbsteinstufung 1-11 (ganz links bis ganz rechts); Sozialismus ist eine gute Idee, die schlecht ausgeführt wurde 1-5 (trifft überhaupt nicht zu bis trifft voll und ganz zu); Steuern/Sozialleistungen 1-11 (mehr Sozialleistungen, auch wenn dafür Steuern erhöht werden müssen bis niedrigere Steuern, auch wenn dafür Sozialleistungen gekürzt werden müssen); Zuwanderung 1-11 (Zuzug von Ausländern erleichtern bis Zuzug von Ausländern einschränken); Gerechte Gesellschaft wichtig 1-5 (überhaupt nicht wichtig bis sehr wichtig).

In früheren Untersuchungen zum Wahlverhalten in Ost- und Westdeutschland kamen meistens multinomiale logistische Regressionsmodelle zum Einsatz. Diese haben den Nachteil, dass die Zahl der zu schätzenden Parameter der Zahl der unabhängigen Variablen mal der Zahl der betrachteten Parteien minus eins entspricht und dementsprechend sehr groß ist. Hinzu kommen die Konstanten. Durch die Aufnahme von Interaktionstermen, die benötigt werden, um Ost-West-Unterschiede in der Wirkung der unabhängigen Variablen zu testen, verdoppelt sich die Zahl der Parameter noch einmal.

Mit Hilfe konditionaler logistischer Regressionsmodelle (Alvarez und Nagler 1998), die für parteispezifische unabhängige Variablen wie z.B. die Parteiidentifikation nur einen einzigen Parameter schätzen, lässt sich dieses Problem abmildern. Die linke Spalte der Tabelle 3 zeigt die Parameterschätzungen für eine solche sparsame Modellierung der Wahlentscheidung, die dem im vorangegangenen Abschnitt vorgestellten Kompositionsmodell entspricht. Die Wahlabsicht (Vorwahlbefragung) wird hier auf die PI, die Bewertung des jeweiligen Spitzenkandidaten sowie auf die Entfernung von der Partei in einem eindimensionalen, durch die Links-Rechts-Skala aufgespannten Politikraum zurückgeführt. Letztere wurde berechnet, indem die Links-Rechts-Einstufungen der Parteien durch die Befragten von deren Links-Rechts-Selbsteinstufung subtrahiert und dann der Betrag gebildet wurde.

Wenn man die Abstände auf der Links-Rechts-Skala als Maß für die grundlegende Übereinstimmung mit dem programmatischen Angebot der Parteien betrachtet, sind damit die drei Hauptkomponenten des Ann-Arbor-Modells vertreten. Da die Links-Rechts-Einstufung allerdings sehr generisch ist, wurden zusätzlich noch zwei Items berücksichtigt, die sich ebenfalls auf politische Inhalte beziehen, aber zugleich stellvertretend für die ökonomische bzw. die gesellschaftspolitische Subdimension der Links-Rechts-Achse stehen können: die Ablehnung einer weiteren Zuwanderung nach Deutschland sowie die Einstellung zum Sozialismus als politischem Ordnungsprinzip. Letztere ist von besonderem Interesse, da sie in der Vergangenheit eine wichtige Rolle für die Wahl der PDS in den neuen Ländern gespielt hat (u.a. Arzheimer/Falter 1998).

Tabelle 3: Determinanten der Wahlentscheidung 2013

(1)(2)(3)
PI2.0***2.1***1.9***
(0.2)(0.2)(0.2)
Bewertung Kandidat0.6***0.5***0.5***
(0.1)(0.1)(0.1)
Ideologische Distanz-0.4***-0.4***-0.4***
(0.1)(0.1)(0.1)
Union0.50.50.6
(0.6)(0.6)(0.7)
FDP1.01.00.9
(0.7)(0.7)(0.7)
B90Grüne0.80.80.8
(0.8)(0.8)(0.8)
Linke0.30.3-0.1
(0.8)(0.8)(1.0)
Union: Sozialismus gute Idee-0.2-0.2-0.3
(0.1)(0.1)(0.2)
FDP: Sozialismus gute Idee-0.4*-0.4*-0.4*
(0.2)(0.2)(0.2)
B90Grüne: Sozialismus gute Idee0.00.00.0
(0.2)(0.2)(0.2)
Linke: Sozialismus gute Idee0.20.20.2
(0.2)(0.2)(0.2)
Union: Ablehnung Zuwanderung-0.0-0.0-0.0
(0.1)(0.1)(0.1)
FDP: Ablehnung Zuwanderung-0.0-0.00.0
(0.1)(0.1)(0.1)
B90Gruene: Ablehnung Zuwanderung-0.1-0.1-0.1
(0.1)(0.1)(0.1)
Linke: Ablehnung Zuwanderung-0.2**-0.2**-0.2*
(0.1)(0.1)(0.1)
Union X Ost0.3-0.2
(0.3)(1.4)
FDP X Ost-0.7-0.5
(0.5)(1.9)
B90Grüne X Ost-0.5-1.3
(0.4)(1.5)
Linke X Ost-0.02.4
(0.4)(1.6)
PI X Ost0.9*
(0.4)
Bewertung Kandidat X Ost0.1
(0.2)
Ideologische Distanz X Ost-0.0
(0.1)
Union: Sozialismus gute Idee X Ost0.1
(0.3)
FDP: Sozialismus gute Idee X Ost0.3
(0.3)
B90Grüne: Sozialismus gute Idee X Ost0.4
(0.3)
Linke: Sozialismus gute Idee X Ost-0.2
(0.3)
Union: Ablehnung Zuwanderung X Ost-0.0
(0.1)
FDP: Ablehnung Zuwanderung X Ost-0.2
(0.3)
B90Grüne: Ablehnung Zuwanderung X Ost-0.1
(0.2)
Linke: Ablehnung Zuwanderung X Ost-0.3
(0.2)
N5589.05589.05589.0
AICW5831.55808.75776.0

Anmerkungen: Werte sind unstandardisierte konditional-logistische Koeffizienten. Effekte personenspezifischer Variablen werden mithilfe parteispezifischer Konstanten und Interaktionsterme abgebildet Wertebereich ideologische Distanz (Links-Rechts-Einstufung selbst-Partei) 0-10; alle anderen Variablen wie in Tabellen 1 und 2. Standardfehler in Klammern und Parameterschätzungen berücksichtigen die von der GLES bereitgestellten Informationen zur Stichprobenziehung. Signifikanzniveaus: * p < 0.05; ** p < 0.01; *** p < 0.001.

Aus Tabelle 3 geht zunächst hervor, dass Parteiidentifikation, Sympathie für den jeweiligen Kandidaten sowie die inhaltliche Nähe zu den Parteien wie erwartet sehr starke Effekte auf die Wahlabsicht haben. Dabei ist zu beachten, dass die Sympathieskalometer bzw. die ideologischen Skalen mit jeweils elf Punkten zwar eine sehr große Spannweite und damit potentiell auch einen sehr großen Effekt haben. Während ein Befragter aber mehrere Kandidaten positiv bewerten und mehrere Parteien als ideologisch nahestehend betrachten kann, so dass schlussendlich nur das Parteien- bzw. Kandidatendifferential von Bedeutung ist, schließt das Vorliegen einer Identifikation mit einer bestimmten Partei das gleichzeitige Vorliegen alternativer Identifikationen zumindest in der hier gewählten Operationalisierung aus.

Deshalb hat die Parteiidentifikation letztlich den stärksten Effekt: Für diejenigen Befragten, die sich selbst mit einer Partei identifizieren, schätzt das Modell die Wahrscheinlichkeit einer PI-konformen Wahl auf rund 86 Prozent. Für Kandidaten, die sehr positiv (mehr als neun Punkte) bewertet werden, liegt die mittlere geschätzte Wahlwahrscheinlichkeit hingegen bei 74 Prozent, für Parteien, die sehr nahe (null oder einen Skalenpunkt entfernt) bei der eigenen Position eingeordnet werden, sogar nur bei 37 Prozent.7

An diesem letztgenannten Punkt zeigt sich, dass die ideologische Nähe in vielen Fällen im Sinne der Zuordnung zu einem Lager zu interpretieren ist. Deshalb lohnt ein Blick auf die Wirkung der beiden verbleibenden Einstellungsvariablen, für die jeweils ein parteispezifischer Effekt geschätzt wird. Dieser gibt einen Eindruck davon, inwieweit die jeweilige Einstellung die Wahlchancen der betreffenden Partei gegenüber der SPD beeinflusst, die hier als Referenzkategorie dient. Im Ergebnis zeigen sich in dieser Perspektive nur zwei signifikante Zusammenhänge: Eine positive Bewertung des Sozialismus als Ordnungsidee reduziert die Wahlchance der FDP gegenüber der SPD; eine kritische Haltung zur Zuwanderung hat den analogen Effekt auf die Wahlchancen der Linken. Anders, als man erwarten könnte, differenziert die Einstellung zum Sozialismus nicht mehr zwischen SPD- und Linken-Wählern.

Gegen diesen letzteren Befund ließe sich erstens einwenden, dass die Bewertung der Kandidaten und die Wahrnehmung der ideologischen Positionen möglicherweise von der Wahlabsicht beeinflusst und deshalb nicht strikt endogen sind. Dies könnte wiederum dazu führen, dass die Effekte dieser Variablen überschätzt, die Wirkung der übrigen Einstellungen hingegen unterschätzt wird. Mit den vorhandenen Daten gibt es allerdings keine Alternative zu der hier gewählten Vorgehensweise. Zweitens stellt sich aber wiederum die Frage, ob sich nicht nur die Verteilung, sondern auch die Wirkung der Einstellungen zwischen Ost- und Westdeutschland unterscheidet.

Das Modell wurde deshalb in zwei Schritten um entsprechende Interaktionsterme erweitert. Zunächst wurden Produktvariablen aus der Befragungsregion und dem Basiseffekt für die jeweilige Partei gebildet, der eventuelle Differenzen in der Popularität der Parteien erfassen soll, die nicht auf die hier betrachteten Variablen zurückgehen (zweite Spalte). Dies entspricht dem oben formulierten Residualmodell. Hier zeigen sich jedoch keinerlei signifikante Ost-West-Unterschiede.

Deshalb wurden im Anschluss weitere Produktterme für die Region und die im Modell enthaltenen Einstellungsvariablen gebildet (dritte Spalte). Diese verbessern die Anpassung an die Daten zwar deutlich; es wird jedoch nur ein signifikanter Effekt geschätzt: Anders, als man vielleicht vermuten könnte, entfalten die Parteiidentifikationen in den neuen Ländern eine nochmals deutlich stärkere Wirkung als im Westen. Im Ergebnis bedeutet dies, dass die Ost-West-Unterschiede in der Wahlentscheidung im Wesentlichen auf die je unterschiedliche Verteilung von Parteiidentifikationen, allgemeinen ideologischen Präferenzen und Kandidatensympathien zurückgehen.

5. Fazit und Ausblick

Fast 25 Jahre nach dem Ende der DDR unterscheidet sich das Wahlverhalten in Ostdeutschland immer noch sehr deutlich von dem in den alten Ländern, auch wenn sich die Differenzen gegenüber den 1990er und frühen 2000er Jahren etwas abgeschwächt haben: Die Wahlbeteiligung ist deutlich niedriger, die Linke sehr viel stärker und die Bonner Parteien dementsprechend deutlich schwächer als in den alten Ländern. Wie die Analysen dieses Kapitels gezeigt haben, entfalten politische Einstellungen in beiden Regionen jedoch sehr ähnliche Wirkungen. Diese Befunde lassen sich deshalb plausibel auf die fortbestehenden Besonderheiten in den politischen Kulturen beider Regionen (Arzheimer 2012) und damit auf mittel- bis langfristig stabile Unterschiede in den politischen Präferenzen in den beiden Landesteilen zurückführen.

Das Fortbestehen eines regionalen Parteiensystems in Ostdeutschland und die daraus resultierende Spaltung des linken Lagers in drei Parteien haben bedeutende Folgen für die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat, vor allem aber auch für die Möglichkeiten der Koalitionsbildung auf der Bundesebene. Womöglich werden SPD und Grüne schon 2017 wieder vor der Frage stehen, ob sie das Wagnis einer rot-rot-grünen Bundesregierung eingehen oder sich für eine Partnerschaft mit der Union bzw. die Oppositionsrolle entscheiden sollen.

Bei allem berechtigten politischen und wissenschaftlichem Interesse an den innerdeutschen Ost-West-Gegensätzen sollten aber zwei Punkte nicht vergessen werden: Zum einen existieren seit langer Zeit beträchtliche und teils sehr stabile politische Unterschiede innerhalb der einzelnen Regionen wie etwa das Beispiel Bayerns zeigt. Zum anderen bestehen in anderen westeuropäischen Ländern wie Belgien, Spanien oder selbst Großbritannien von regionalen Parteisystemen überwölbte politische Konflikte, an denen in absehbarer Zeit die territoriale Integrität der betreffenden Staaten scheitern könnte. Vor diesem Hintergrund sollten die Unterschiede zwischen alten und neuen Ländern mit einer gewissen Gelassenheit betrachtet werden.

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1 Der in Arzheimer und Falter (2013) für die Bundestagswahl 2009 berichtete Wert ist aufgrund eines Übertragungsfehlers zwei Punkte zu hoch.

2 In der Vorwahlbefragung wurden alle Befragten als Wähler betrachtet, die angaben, “bestimmt” oder “wahrscheinlich” zur Wahl gehen zu wollen bzw. ihre Stimme bereits per Briefwahl abgegeben zu haben.

3 Die Vorwahlbefragung enthält zusätzlich noch ein Item zu den Erwartungen über die Wahlbeteiligung der Nachbarn, das als Proxy-Variable für eine subjektive (Wahlbeteiligungs)norm (Ajzen und Fishbein 1980) betrachtet werden kann, aber hier unberücksichtigt bleiben muss, da sich ansonsten die Zahl der verwertbaren Fälle halbieren würde.

4 In der Vorwahluntersuchung sind Daten zu Interviews in insgesamt 211 Wahlkreisen enthalten. Von diesen sind 156 durch einen, 51 weitere durch zwei Stimmbezirke vertreten. Lediglich in vier Wahlkreisen wurden Personen aus drei verschiedenen Stimmbezirken befragt.

5 Diese Berechnungen entsprechen dem “Average Marginal Effect” (AME, siehe Williams (2012)), der eine realistische Einschätzung der politischen Relevanz ermöglicht (Hanmer und Ozan Kalkan 2013).

6 Zu beachten ist dabei allerdings, dass rund ein Drittel der Befragten keine Angaben zu ihrer Sympathie für die AfD machen konnten oder wollten bzw. angab, die Partei überhaupt nicht zu kennen. Diese Fälle wurden vollständig aus der Analyse ausgeschlossen. Außerdem beschränkt sich die Darstellung auf die Angaben aus jenen Interviews, die vor der Wahl geführt wurden. In der Nachwahlbefragung zeigt sich als Reaktion auf den Beginn der Koalitionsverhandlungen sehr schnell eine Ausdifferenzierung des linken Lagers.

7 Diese Schätzungen beziehen sich auf die komplexeste Variante des Modells.