Die Wahlen zur Hamburger Bürgerschaft und zum Berliner Abgeordnetenhaus 2001

Kai Arzheimer

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1.   Die Wahlergebnisse

Rund ein Jahr vor der nächsten Bundestagswahl ist es in beiden Stadtstaaten zu dramatischen Veränderungen der politischen Landschaft gekommen. Grüne, SPD und Union mußten teils schwere Verluste hinnehmen, während die FDP, vor allem aber die PDS und die neugegründete Partei des Richters Ronald Schill („Rechtsstaatliche Offensive“) die eindeutigen Gewinner der letzten Landtagswahlen dieses Jahres sind. Seriöse Prognosen für die Bundestagswahl lassen sich aus den Wahlergebnissen nicht ableiten, da die Entscheidung der Bürger in beiden Fällen wesentlich von lokalen Themen, Kandidaten und Ereignissen beeinflußt wurde.

 

Bitte beachten Sie: Es handelt sich bei diesem Text nicht um die endgültige Druckfassung, sondern um ein Manuskript. Bitte zitieren Sie deshalb bitte nur nach der gedruckten Fassung!

 

1.1  Das Wahlergebnis in Hamburg

Bei einer im wesentlichen konstanten Wahlbeteiligung von 71 Prozent konnte die SPD gegenüber dem Ergebnis von 1997 – dem schlechtesten der Nachkriegszeit – nur eine geringfügige Verbesserung von 0,3 Prozentpunkten erzielen. Der Stimmenanteil der Grünen, deren Hamburger Landesverband unter dem Traditionsnamen „Grün-Alternative Liste“ (GAL) firmiert, reduzierte sich um mehr als ein Drittel auf nur noch 8,6 Prozent. Zu diesem schlechten Resultat trug sicherlich die lagerinterne Konkurrenz der linken „Regenbogen“-Gruppierung bei, die nach der 1999 erfolgten Abspaltung von der GAL nun erstmals mit einer eigenen Liste kandidierte, aber die Fünfprozenthürde nicht überwinden konnte. Eine Fortsetzung der rot-grünen Koalition, die in der Hansestadt seit 1997 regierte, war damit ausgeschlossen. Nachdem sich der Spitzenkandidat der CDU, Ole von Beust, bereits am Wahlabend gegen die Bildung einer großen Koalition ausgesprochen hatte und die FDP die Bildung einer sogenannten Ampelkoalition in Hamburg kategorisch ablehnte, zeichnete sich rasch ab, daß die SPD, die seit 1957 die Ersten Bürgermeister der Stadt gestellt hatte, an der neuen Regierung nicht beteiligt sein würde.

 

Bürgerschaftswahl 2001

Bürgerschaftswahl 1997

SPD

36,5

36,2

CDU

26,2

30,7

SCHILL-Partei

19,4

-,-

B90/GRÜNE (GAL)

8,6

13,9

FDP

5,1

3,5

REGENBOGEN

1,7

-,-

DVU

0,7

4,9

STATT-Partei

0,4

3,8

REP

0,1

1,8

Sonstige

1,3

5,2

Pedersen-Index

21,3

6,3

Wahlbeteiligung

71,0

69,5

ungültige Stimmen

0,9

1,1

 

Tabelle 1: Das amtliche Endergebnis (Listenstimmen) der Hamburger Wahl vom 23. September 2001

Auch die CDU mußte Verluste hinnehmen. Mit nur noch 26,2 Prozent der Stimmen erzielte sie ihr zweitschlechtestes Ergebnis seit 1946. Innerhalb des sogenannten Bürgerblocks, der nun die Stadt regiert, bildet sie zwar die größte Fraktion; der Vorsprung gegenüber der Schill-Partei beträgt aber lediglich acht Mandate, was nicht ohne Folgen für die Machtverhältnisse innerhalb der Koalition bleiben kann.

Die beiden Partner der CDU, die FDP und die „Rechtsstaatliche Offensive“, sind die klaren Gewinner der Wahlen vom September: Der FDP gelang mit einem Ergebnis von 5,1 Prozent denkbar knapp erstmals seit 1993 wieder der Einzug in die Bürgerschaft. Die Schill-Partei schließlich erzielte knapp ein Jahr nach ihrer Gründung landesweit einen Stimmenanteil von annähernd 20 Prozent. Im Stadtteil Wilhelmsburg, der als soziales Problemgebiet gilt, erreichte die Neugründung sogar 35 Prozent, ließ damit die CDU weit hinter sich und blieb ihrerseits nur wenig hinter der SPD (35,5 Prozent) zurück. In der Wahlgeschichte der Bundesrepublik ist dieser triumphale Erfolg ein Novum.

Der STATT-Partei, der 1993 ebenfalls überraschend, aber mit einem ungleich bescheideneren Ergebnis der Sprung über die Fünfprozenthürde geglückt war, gelang es nicht, ihren elektoralen Erosionsprozeß zu stoppen. Mit einem Ergebnis von nur noch 0,4 Prozent wurde sie 2001 zu einer Splitterpartei degradiert. Ähnliches gilt für die Republikaner und die DVU. Letztere errang 1997 4,98 Prozent der Wählerstimmen und wäre mit Sicherheit ins Parlament eingezogen, wenn die Republikaner auf eine eigene Liste verzichtet hätten. Bei der jüngsten Wahl hingegen waren beide Rechtsparteien gleichermaßen chancenlos.

 

Bürgerschaft 2001

Bürgerschaft 1997

SPD

46

54

CDU

33

46

SCHILL-Partei

25

-

B90/GRÜNE (GAL)

11

21*

FDP

6

-

Effektive Parteienzahl

3,7

2,7

* Wegen des Kosovo-Krieges spalteten sich im März 1999 5 Abgeordnete von der GAL-Fraktion ab und bildeten seitdem die parlamentarische Gruppe „Regenbogen“

Tabelle 2: Sitzverteilung in der Bürgerschaft

 

Besser als die in den Medien beliebten historischen Vergleiche können zwei einfache Maßzahlen das ganze Ausmaß der Kräfteverschiebungen zwischen den Hamburger Parteien verdeutlichen: der Pedersen-Index und die „effektive Zahl“ der in der Bürgerschaft vertretenen Parteien. Der Pedersen-Index errechnet sich als die Summe der in Prozentpunkten ausgedrückten Gewinne aller Parteien, die sich gegenüber der letzten Wahl verbessern konnten. Sein theoretisches Maximum von 100 würde dieser Index annehmen, wenn alle im Parlament vertretenen Parteien vollständig durch andere Gruppierungen ersetzt würden. Ein Indexwert von 0 ergäbe sich, wenn es zu keinerlei Verschiebungen im Stärkeverhältnis der Parteien kommt.[1] Für die Bürgerschaftswahl 2001 errechnet sich mit 21,3 ein Wert, der weit über dem Durchschnitt der zwölf vorangegangenen Wahlen von 7,2 Punkten liegt. Nur 1993 erreichte der Index mit 18,2 Punkten eine vergleichbare Höhe. Damals zog die STATT-Partei in die Bürgerschaft ein, die GAL erzielte beträchtliche Gewinne und auch DVU sowie Republikaner konnten deutliche Zuwächse verzeichnen. Die Volksparteien hingegen mußten entsprechende Verluste hinnehmen, von denen sie sich bis heute nicht erholt haben. Auch nach diesem objektiven Kriterium muß das Ergebnis der jüngsten Bürgerschaftswahl als außergewöhnlich bezeichnet werden.

Die „effektive Zahl der im Parlament vertretenen Parteien“ kombiniert die absolute Anzahl der Parteien mit deren relativer Stärke.. Verfügen alle im Parlament vertretenen Parteien über die gleiche Zahl von Mandaten, entspricht der Indikator exakt der tatsächlichen Anzahl der Parteien. Bestehen hingegen ausgeprägte Unterschiede im Kräfteverhältnis der Parteien, sinkt deren „effektive“ Zahl.[2] Letztlich handelt es sich bei dieser Maßzahl lediglich um die Operationalisierung einer Überlegung, die dem politischen Alltagsdenken entnommen ist. So errechnet sich für das bundesdeutsche Parteiensystem der 70er Jahre, das häufig als „Zweieinhalb-Parteiensystem“ bezeichnet wurde, eine effektive Parteienzahl von 2,3. Je niedriger die effektive Zahl der Parteien im Parlament, desto einfacher ist es ceteris paribus eine (Koalitions-) Regierung zu bilden. In Hamburg war die effektive Zahl der im Parlament vertretenen Parteien während der 90er Jahren analog zur Entwicklung im Bund bereits auf 2,7 gestiegen.[3] In der neu gewählten Bürgerschaft hingegen liegt die effektive Zahl der Parteien bei 3,7.

Der gemeinsame Befund der beiden objektiven Kennzahlen ist eindeutig: Durch eine in der Geschichte der Bürgerschaftswahlen fast einmalige Verschiebung der politischen Kräfte haben die Volksparteien CDU und SPD dramatisch an Bedeutung verloren. Das Hamburger Parteiensystem, das über Jahrzehnte hinweg von der SPD dominiert wurde, hat sich in dieser Legislaturperiode an den Typus eines echten Mehrparteiensystems angenähert.

1.2  Das Wahlergebnis in Berlin

Auch in Berlin hat das Ergebnis der jüngsten Wahl die politische Landschaft verändert. Die Verluste der Union können nur als spektakulär bezeichnet werden: Bei leicht gestiegener Wahlbeteiligung sank die Partei um 17,1 Punkte auf einen Stimmenanteil von 23,7 Prozent ab. Die CDU mußte damit ihr schlechtestes Ergebnis seit 1950 hinnehmen. Gegenüber 1999 hat sich der Anteil der Christdemokraten an den Wählerstimmen um mehr als ein Drittel reduziert. In der Geschichte der Union ist dies der größte Stimmenverlust bei einer Landtagswahl. Auch für die Grünen war das Ergebnis enttäuschend: Mit 0,8 Prozentpunkten verloren sie zwar nur geringfügig. Ihr Versuch, den anhaltenden Negativ-Trend der Partei umzukehren, war damit aber gescheitert.

 

Abgeordnetenhaus 2001

Abgeordnetenhaus 1999

SPD

29,7

22,4

CDU

23,7

40,8

PDS

22,6

17,7

FDP

9,9

2,2

B90/GRÜNE (AL)

9,1

9,9

GRAUE

1,4

1,1

REP

1,3

2,7

NPD

0,9

0,8

STATT-Partei

0,8

-,-

Sonstige

0,6

2,4

Pedersen-Index

19,9

6,6

Wahlbeteiligung

68,2

65,5

ungültige Stimmen

1,7

1,1

 

Tabelle 3: Das amtliche Endergebnis (Zweitstimmen) der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus vom 21. Oktober 2001

 

Die SPD konnte sich gegenüber ihrem Ergebnis von 1999 – dem schlechtesten der Nachkriegsgeschichte – um immerhin 7,3 Punkte verbessern, blieb damit aber hinter den eigenen Ansprüchen und den Erwartungen der professionellen Beobachter zurück. Die klaren Gewinner der Wahl sind die FDP, die erstmals seit 1995 wieder im Abgeordnetenhaus vertreten ist, und die PDS, die ihr Ergebnis von 1999 nochmals um fast fünf Punkte verbessern konnte und erneut zur drittstärksten Fraktion im Abgeordnetenhaus avancierte. Die deutlichen Terrain-Gewinne der drei letztgenannten Parteien führten ähnlich wie in Hamburg dazu, daß auch hier der Pedersen-Index einen Wert erreicht, der mit 19,9 Punkten weit über dem langjährigen Mittel von 9,0 liegt. Die effektive Zahl der Parteien im Parlament, die während der 90er Jahre bereits einen mittleren Wert von 3,3 erreicht hatte, stieg mit dieser Wahl schlagartig auf 4,3, weil sich die Stimmenanteile der drei großen Parteien weiter aneinander angenähert haben und mit der FDP nun eine weitere kleine Partei im Abgeordnetenhaus vertreten ist.

 

Abgeordnetenhaus 2001

Abgeordnetenhaus 1997

SPD

44

42

CDU

35

76*

PDS

33

33

FDP

15

-

B90/GRÜNE (AL)

14

18*

Effektive Parteienzahl

4,3

3,2

* Im Verlauf der Legislaturperiode hatten vier Abgeordnete der Union und ein Abgeordneter der Grünen ihre Fraktionen verlassen und wurden als „fraktionslos“ geführt.

Tabelle 4: Die Sitzverteilung im Abgeordnetenhaus

Dieser Anstieg erklärt sich zum Teil durch die fortdauernde politische Spaltung der Stadt: 11 Jahre nach der staatlichen Vereinigung haben sich die bekannten Unterschiede im Wahlverhalten der ehemaligen West- und Ost-Berliner weiter verstärkt. Am deutlichsten zeigt dies das Abschneiden der PDS, die in den östlichen Stadtbezirken fast 48 Prozent der Zweitstimmen auf sich vereinen und alle Direktmandate[4] gewinnen konnte, während sie im Westen einen Zweitstimmenanteil von nur 6,9 Prozent erreichte. Beinahe spiegelbildlich dazu stellen sich die Ergebnisse von FDP, Grünen und CDU dar, die im Westen deutlich besser abschnitten als im Osten. Lediglich die SPD erzielte mit 33,7 Prozent der Zweitstimmen in den westlichen und 23,2 Prozent in den östlichen Bezirken ein vergleichsweise ausgeglichenes Ergebnis. Wie unter einem Brennglas zeigt sich in Berlin die regionale Ausdifferenzierung des deutschen Parteiensystems, die sich während der 90er Jahre vollzogen hat.

2.   Analyse

 

2.1  Ausgangsbedingungen und Wahlkampf

In Hamburg konnte der von Bürgermeister Ortwin Runde geführte rot-grüne Senat im Bereich Wirtschaftspolitik und Stadtentwicklung einige Erfolge erzielen, die insbesondere die SPD im Wahlkampf in politisches Kapital umzumünzen versuchte. Wie schon 1997 spielten diese Themen für die Mehrheit der Bürger jedoch nur eine untergeordnete Rolle. Vor dem Hintergrund einer objektiv sehr hohen Kriminalität nahm die Mehrheit der Wähler statt dessen die sogenannte „Innere Sicherheit“ als größtes Problem der Hansestadt wahr. Lange vor den Terroranschlägen von New York und Washington, nämlich im Juni 2001, nannten fast 60 Prozent der Befragten in einer Umfrage von Infratest dimap den Bereich „Kriminalität/Gewalt/Drogen“ als wichtigstes Problemfeld, dessen sich die Politik annehmen müsse, während Arbeitslosigkeit von weniger als einem Drittel der Befragten als drängendes Problem angesehen wurde. Sehr ähnliche Werte ermittelte die Forschungsgruppe Wahlen (FGW) dann im September. Ähnlich wie bei der vorangegangenen Wahl erkannten jedoch die beiden großen Parteien die Tragweite des Themas zu spät und bemühten sich erst gegen Ende des Wahlkampfes, ihre sicherheitspolitische Kompetenz unter Beweis zu stellen.

In diese Lücke stieß die neugegründete Partei des in der Lokalpresse als „Richter Gnadenlos“ bekanntgewordenen Populisten Schill, deren Wahlprogramm sich fast ausschließlich mit der Bekämpfung und Ahndung von Straftaten, in geringerem Umfang auch mit der (illegalen) Zuwanderung von Ausländern beschäftigt. Während Rundes Vorgänger Voscherau Law-and-Order-Themen glaubwürdig besetzen konnte (und sich dadurch in Gegensatz zu seiner eigenen Partei brachte), hatten der Erste Bürgermeister und sein als eher liberal geltender christdemokratischer Herausforderer den Auftritten Schills wenig entgegensetzen. Von einem Amtsbonus des Regierungschefs war im Wahlkampf wenig zu spüren. Die Spitzenkandidaten beider großen Parteien wirkten gleichermaßen blaß und erzielten nur bescheidene Zustimmungswerte.

Die GAL und ihre Spitzenkandidatin, die Zweite Bürgermeisterin Krista Sager, litten im Wahlkampf naturgemäß unter der Bedeutung des Themas „Innere Sicherheit“. Hinzu kamen die Konkurrenz der oben erwähnten Gruppierung „Regenbogen“, einige umweltpolitische Schlappen, die die grünen Senatoren im Wahljahr hinnehmen mußten, und ein gewisser Abnutzungseffekt, dem die Grünen fast unweigerlich zu unterliegen scheinen, wenn sie sich an der Regierungsverantwortung beteiligen. Die FDP unter ihrem politisch wenig erfahrenen Spitzenkandidaten Rudolf Lange schließlich betonte im Wahlkampf das Thema „Hamburger Filz“ und umwarb damit die bisherigen Anhänger der STATT-Partei. Ihre potentiellen Wähler irritierte sie zunächst dadurch, daß sie vor der Wahl keine Koalitionsaussage treffen wollte. Erst in der Spätphase des Wahlkampfes schloß sie eine Ampelkoalition aus und legte sich auf eine Zusammenarbeit mit der CDU fest. Seine Konturen gewann der Wahlkampf vor allem durch die öffentlichen Auseinandersetzungen um Person und Programm des Richters Schill.

Ungleich dramatischer als in Hamburg präsentierte sich die Ausgangslage in Berlin. Dort war erst im Oktober 1999 ein neues Parlament gewählt worden, aus dem wie bereits 1990 und 1995 ein von CDU und SPD geführter Senat hervorgegangen war. Als aber im Frühjahr 2001 immer deutlicher wurde, wie tief Klaus Landowsky, Fraktionschef der CDU und langjähriger politischer Weggefährte des Regierenden Bürgermeisters Eberhard Diepgen, in den Skandal um den Zusammenbruch der mehrheitlich landeseigenen Berliner Bankgesellschaft verstrickt war, sah die SPD eine Chance, die häufig als „babylonische Gefangenschaft“ bezeichneten Koalition mit der CDU zu beenden.

Unbeeindruckt von den Warnungen der Union vor dem Bruch eines politischen Tabus stürzten SPD und Grüne gemeinsam mit der PDS Anfang Juni die Regierung Diepgen und bildeten einen rot-grünen Minderheitssenat. Ihr Ziel war es, so rasch wie möglich Neuwahlen herbeizuführen. Neuer Regierender Bürgermeister wurde der bisherige SPD-Fraktionschef Wowereit, der auch bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus als Spitzenkandidat antreten sollte. Die CDU, deren Stimmen für eine Selbstauflösung des Parlamentes benötigt wurden, geriet durch die Dynamik der Ereignisse in die Defensive und versuchte zunächst, den Wahltermin möglichst weit in die Zukunft zu verschieben. Nachdem sich beide Blöcke schließlich darauf geeinigt hatten, die Bürger im Oktober wählen zu lassen, machte Anfang September ein entsprechender Parlamentsbeschluß auch formal den Weg für Neuwahlen frei.

In den 40 Jahren, in denen West-Berlin politisch gefährdet und finanziell von den Tranferzahlungen der Bundesrepublik abhängig war, galten Interessenverflechtungen zwischen Wirtschaft, öffentlicher Verwaltung und den Vertretern der etablierten Parteien als mehr oder minder normal. Seit der Wiedervereinigung befindet sich dieses Berliner Beziehungsnetz zwar in einer Anpassungskrise, ist aber keineswegs vollständig aufgelöst. Ungewöhnlich waren am Skandal um die Bankgesellschaft deshalb in erster Linie dessen finanziellen Dimensionen, die den Landeshaushalt auf Jahre hinaus belasten werden.

Obwohl die Aufsicht über die Bankgesellschaft in die Zuständigkeit einer früheren SPD-Senatorin fiel, gelang es den Sozialdemokraten, der Öffentlichkeit den Eindruck zu vermitteln, daß die moralische, politische und finanzielle Malaise, die die große Koalition hinterläßt, allein der CDU anzurechnen sei. Anders als in früheren Jahren vermied die SPD außerdem vor dieser Wahl zermürbende Diskussionen um Personal- und Sachfragen. Ihr Spitzenkandidat Wowereit hatte die uneingeschränkte Unterstützung des Landesvorsitzenden Strieder und wurde rasch zum beliebtesten Politiker der Stadt, wozu vermutlich auch sein selbstbewußtes Bekenntnis zur eigenen Homosexualität („und das ist auch gut so“) beigetragen hat. Seine Funktion als Regierender Bürgermeister nutzte er sehr erfolgreich, um seinen Bekanntheitsgrad zu steigern. Obwohl der Minderheitssenat entsprechend seinem Selbstverständnis als Übergangsregierung keine Richtungsentscheidungen traf, vermittelte Wowereit den Wahlberechtigten über die Grenzen der eigenen Anhängerschaft hinaus den Eindruck, ein kompetenter Regierungschef zu sein, und erzielte in Umfragen sehr hohe Zustimmungswerte. Ein Bündnis mit der PDS schloß er ausdrücklich nicht aus.

Die CDU befand sich demgegenüber in einer ungleich schwierigeren Lage. Ohne Landowsky, der seine offiziellen Parteiämter aufgeben mußte, und Diepgen, der als Kandidat nicht mehr zur Verfügung stand, wirkte die CDU orientierungslos. Eine Kandidatur Wolfgang Schäubeles für das Bürgermeisteramt scheiterte am Widerstand des Landesverbandes, der schließlich den weithin unbekannten und politisch wenig erfahrenen Frank Steffel zum Spitzenkandidaten kürte. Ihm gelang es weder, die eigene Partei hinter sich zu einen, noch die Berliner von seinen Führungsqualitäten zu überzeugen. In Umfragen erzielte Steffel regelmäßig die niedrigsten Zustimmungswerte. Eine in der Kürze der Zeit ohnehin unmögliche Erneuerung der Partei konnte der Kandidat, der im Wahlkampf vor allem an die antikommunistischen Sentiments der Berliner appellierte, nicht überzeugend verkörpern. Auch von den Unionsanhängern wurde er nur sehr zurückhaltend beurteilt.

Die PDS hatte nach internen Querelen, die der Partei aber nicht nachhaltig schaden konnten, den weit über die eigenen Reihen hinaus beliebten Gregor Gysi als Spitzenkandidaten gewonnen, der offensiv eine Regierungsbeteiligung der Postsozialisten anstrebte. Die Tolerierung eines rot-grünen Minderheitssenats über den Wahltag hinaus lehnte Gysi, der seine Partei als Hüter sozialstaatlicher Errungenschaften und ostdeutscher Interessen in einer von der SPD dominierten Regierung empfahl, klar ab.

Die Grünen, die für eine Fortsetzung des rot-grünen Bündnisses warben, konnten im Wahlkampf anscheinend nur wenig von ihrer Beteiligung an der Minderheitsregierung profitieren. Wenige Wochen vor der Wahl war der Name ihre Spitzenkandidatin Sybill Klotz erst der Hälfte der Bürger ein Begriff. Ganz im Gegensatz dazu war der Kandidat der FDP, Rexrodt, als früherer Bundeswirtschaftsminister einer breiten Mehrheit der Wähler bekannt. Dieser sprach sich vor der Wahl klar für ein Bündnis mit der SPD und gegen eine Zusammenarbeit mit der desolaten CDU aus.

Der Wahlkampf selbst verlief ruhig und wurde von den Berlinern mit mäßigem Interesse verfolgt. Die Anschläge vom September scheinen kurzfristig der SDP zugute gekommen zu sein, während sie den Grünen und der PDS eher geschadet haben. Insgesamt dürfte ihr Einfluß auf den Wahlausgang aber gering gewesen sein.

2.2  Wählerverhalten

Bereits bei der Betrachtung der Wahlergebnisse hat sich gezeigt, daß beide Wahlen von einer starken Volatilität des Wählerverhaltens gekennzeichnet waren. Voraussetzung für saldierte Wählerwanderungen in der Größenordnung, wie sie in Hamburg und Berlin zu verzeichnen waren, ist eine deutlich gestiegene Bereitschaft der Bürger zur Wechselwahl. Traditionelle Bindungen sozialer Gruppen (Katholiken / Arbeiter) an bestimmte Parteien verlieren in der alten Bundesrepublik bereits seit den 70er Jahren kontinuierlich an Relevanz. In den neuen Ländern gingen diese sozialstrukturell verankerten Loyalitäten bereits vor dem Untergang des SED-Regimes verloren (Arzheimer/Falter 1998). An ihrer Stelle gewinnen in Deutschland wie in den meisten westlichen Demokratien kurzfristig wirksame Faktoren wie die Persönlichkeit der Spitzenkandidaten und die aktuellen politischen Fragen, Ereignisse und Probleme an Bedeutung für die Wahlentscheidung.

Dies gilt in besonderer Form für die zurückliegenden Wahlen in Hamburg und Berlin: Erstens sind die Bürger bei solchen „Nebenwahlen“ ohnehin eher zu politischen Experimenten bereit als bei einer Bundestagswahl, zweitens vollziehen sich die angesprochenen Auflösungsprozesse in einer Großstadt schneller als in ländlichen Regionen, drittens schließlich spielen aufgrund der Kompetenzverteilung zwischen den politischen Ebenen bei den Landtagswahlen in den Stadtstaaten landes- und kommunalpolitische Fragen in besonderer Weise zusammen, während grundsätzliche Richtungsfragen, die für die Bundespolitik von Bedeutung sind, in den Hintergrund treten. Dennoch sind die aus der alten Bundesrepublik vertrauten Muster des Wahlverhaltens noch nicht gänzlich verschwunden.

So zeigte die Wahltagsbefragung der FGW in Hamburg, daß FDP und Grüne wie gewohnt bei den Wählern mit hoher formaler Bildung weit überdurchschnittliche Resultate erzielen konnten, während die Union von den (wenigen) katholischen Wählern Hamburgs überproportional unterstützt wurde. Unter den gewerkschaftlich gebundenen Arbeitern entschieden sich noch fast die Hälfte, nämlich 47 Prozent für die SPD. 1997 lag der Vergleichswert allerdings noch zehn Prozentpunkte höher. Zudem schrumpft die traditionelle sozialdemokratische Kernklientel: Anfang der 60er Jahre waren noch 44 Prozent der Erwerbstätigen in Hamburg Arbeiter. Vier Jahrzehnte später hat sich dieser Anteil halbiert.

Hinzu kommt, daß die SPD um jene sozialen Gruppen, bei denen sie traditionell große Unterstützung fand, mit der Schill-Partei konkurrieren muß. Beispielsweise erreichte die „Rechtstaatliche Offensive“ unter den jüngeren Wählern mit einfacher Schulbildung, die sonst in großem Umfang die SPD gestützt hatten, einen Anteil von 36 Prozent und übertraf damit die Sozialdemokraten (35 Prozent) sogar leicht. Anders als im Falle von DVU und Republikanern, die in den 90er Jahren ebenfalls Teile der Arbeiterschaft für sich gewinnen konnten, beschränken sich die Erfolge der Schill-Partei aber keineswegs auf marginalisierte Bevölkerungsgruppen. Auffällig ist vor allem die Resonanz, die Schill bei älteren Wählern aus allen sozialen Schichten fand. Dieser Personenkreis fühlt sich, wie man aus zahlreichen Umfragen weiß, in besonderer Weise durch Kriminalität bedroht. In der sozio-ökonomischen Zusammensetzung ihrer Wählerschaft läßt sich die „Rechtsstaatliche Offensive“ insgesamt nur schwer vom (früheren) Profil der Volksparteien abgrenzen, denen sie zahlreiche Wähler abspenstig machen konnte. Entscheidendes Motiv für die Mehrheit der Schill-Wähler war erwartungsgemäß die Hoffnung, daß ein Innensenator Schill in der Kriminalitäts- und Ausländerpolitik „hart durchgreifen“ werde.

Auch in Berlin hatten kurzfristig wirksame Faktoren einen entscheidenden Einfluß auf das Wahlverhalten. Die CDU wurde als Hauptverantwortliche für das Bankendebakel wahrgenommen, galt bei der Mehrheit der Wähler als inkompetent und konnte keinen überzeugenden Kandidaten für das Bürgermeisteramt präsentieren. Infolgedessen verlor sie in allen Bevölkerungsgruppen an Unterstützung und mußte in erheblichem Umfang Wähler an SPD und FDP, nach Analysen von Infratest dimap und Infas im Osten Berlins sogar an die PDS abgeben. Die Grünen mußte leichte Verluste an PDS und SPD hinnehmen, konnten aber einen großen Teil ihrer hochgebildeten Stammwähler mobilisieren.

Die SPD hingegen profitierte von der Beliebtheit ihres Spitzenkandidaten und der weitverbreiteten Unzufriedenheit mit der Union. Sie konnte zahlreiche frühere CDU-Wähler für sich gewinnen; insbesondere ältere Wähler, die sonst die Union unterstützt haben, gingen bei dieser Wahl davon aus, daß die Sozialdemokraten am ehesten die Probleme der Stadt lösen könnten. Auch der FDP kam die Krise der Union zugute. Ihre erstaunlichen Zugewinne erklären sich in erster Linie durch den Zustrom enttäuschter CDU-Wähler, die darauf hofften, daß die Partei in einer künftigen Regierung mit der SPD als bürgerliches Korrektiv fungieren und eine Regierungsbeteiligung der PDS verhindern würde. Die PDS konnte ihre ohnehin starke Stellung im Osten Berlins nochmals um acht Prozentpunkte verbessern, gewann aber auch in Westberlin leicht hinzu. Neben ihrem Spitzenkandidaten Gregor Gysi, der als eloquenter Anwalt ostdeutscher (und Ostberliner) Interessen wahrgenommen wird und sich über die Anhängerschaft der PDS hinaus beträchtlicher Sympathien erfreuen kann, dürfte auch die klar ablehnende Haltung der PDS gegenüber den im Osten Deutschlands sehr unpopulären Militäreinsätzen gegen Afghanistan zu diesem guten Ergebnis beigetragen haben.

2.3  Folgen

Die Wahlergebnisse von Hamburg und Berlin erschwerten die Regierungsbildung und stellten die großen Parteien vor ungewohnte Probleme. In Hamburg war die Bildung einer „kleinen Koalition“, die in der Bundesrepublik noch immer als „normale“ Form der Regierung gilt, durch die Mehrheitsverhältnisse in der Bürgerschaft ausgeschlossen. Zur Disposition standen lediglich die politisch unerwünschte Große Koalition und der nun realisierte „Bürgerblock“.

Keine der drei Parteien, die den neuen Senat tragen, verfügt in Hamburg über Regierungserfahrung: Die FDP war seit 1991 nicht mehr am Senat beteiligt und gehörte seit 1993 nicht mehr der Bürgerschaft an. Ihr ehemaliges Führungspersonal hat sich in den zurückliegenden acht Jahren aus der Politik zurückgezogen. Die CDU war zwar in der Bürgerschaft als Opposition präsent, konnte aber seit 1957 keine Senatoren mehr stellen. Auch bei den von der Schill-Partei benannten Regierungsmitgliedern handelt es sich größtenteils um politische Seiteneinsteiger. Inwiefern es dem neuen Senat unter diesen Umständen gelingt, zusammen mit der durch die jahrzehntelange SPD-Herrschaft geprägten öffentlichen Verwaltung den im Koalitionsvertrag beschworenen Politikwechsel zu vollziehen, bleibt abzuwarten. Schwieriger noch dürfte sich die alltägliche Zusammenarbeit zwischen der FDP einerseits und der „Rechtsstaatlichen Offensive“ andererseits gestalten.

Daß der Überraschungserfolg der „Rechtsstaatlichen Offensive“ weitreichende Folgen für die Bundespolitik haben könnte, erscheint momentan unwahrscheinlich. Außerhalb Hamburgs haben die Volksparteien die Relevanz des Themas „Innere Sicherheit“ längst erkannt und konnten dieses Politikfeld mit Persönlichkeiten wie dem Bundesinnenminister Schily, dem bayerischen Innenminister Beckstein oder dem hessischen Ministerpräsidenten Koch glaubwürdig besetzen. Hinzu kommt, daß die Bekämpfung der Kriminalität in anderen Ländern und im Bund auf der politischen Agenda der Bürger weitaus niedriger rangiert als in Hamburg. Darüber hinaus hat das Beispiel der STATT-Partei gezeigt, wie schwierig es aus personellen, organisatorischen und inhaltlichen Gründen für eine regionale Protest- und Reform-Partei ist, eine bundesweite Organisation aufzubauen.

Auch auf die Chancen der rot-grünen Bundesregierung, ihre Gesetzesvorlagen durch den Bundesrat zu bringen, wird das Wahlergebnis wenig Einfluß haben. Da derzeit weder die von der Union geführten noch die von SPD und Grünen regierten Länder über eine Mehrheit der Bundesratsstimmen verfügen und in der Länderkammer ohnehin nur selten strikt nach Parteiinteressen abgestimmt wird, kommt hier dem Verhalten der „neutralen“ Länder eine entscheidende Bedeutung zu. Dieser Gruppe ist nun auch Hamburg zuzurechnen. Wie in solchen Fällen üblich, haben CDU, Schill-Partei und FDP in ihren Koalitionsvertrag eine Klausel aufgenommen, die besagt, daß sich die Hansestadt der Stimme enthält, wenn sich die Partner nicht auf eine gemeinsame Linie einigen können.

Sinngemäß gelten diese Überlegungen auch für den Wahlausgang in Berlin. Auch dort ließen die ungewöhnlich stark fragmentierten Mehrheitsverhältnisse die Bildung einer kleinen Koalition der SPD mit den Grünen oder den Liberalen nicht zu. Möglich waren allein eine Ampelkoalition oder eine von SPD und PDS getragene Regierung. Eine Fortsetzung der Großen Koalition oder eine erneute Tolerierung eines Minderheitssenats wurden von den Akteuren aus politischen Gründen ausgeschlossen. Auch die von einigen Berliner Vertretern der Grünen ins Spiel gebrachte Idee eines rot-rot-grünen Bündnisses hatte wenig Aussichten auf eine Realisierung.

Daß die SPD sich innerhalb einer Woche für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit der FDP und den Grünen entscheiden würde, war keineswegs sicher. Sowohl Ampel- als auch rot-rote Koalition sind für den Regierenden Bürgermeister mit erheblichen Problemen verbunden: Im Bündnis mit der PDS hätte es sich als äußerst schwierig erwiesen, die Neuverschuldung des Landes einzudämmen und die dringend nötigen strukturellen Reformen einzuleiten. Zudem versteht sich die PDS als Sachwalterin der Ostberliner Interessen und hätte diese in einer Koalitionsregierung entschlossen zu vertreten gesucht. In einer Ampelkoalition hingegen sind heftige Konflikte zwischen FDP und AL vorprogrammiert. Außerdem verfügen die drei Parteien gemeinsam nur über eine sehr knappe Mehrheit von 73 der 141 Mandate, die bei koalitionsinternen Auseinandersetzungen rasch ins Wanken geraten kann. Für Wowereit wird es deshalb in jedem Fall sehr schwierig werden, sein Programm zur politischen Erneuerung der Stadt umzusetzen.

In der Öffentlichkeit und innerhalb der SPD sind Koalitionen mit der PDS nach wie vor umstritten. Auch Gerhard Schröder als Kanzler und Vorsitzender der Bundespartei ließ wenig Zweifel daran, daß er einem weiteren rot-roten Bündnis wenig Sympathien entgegenbringt. Dennoch muß man davon ausgehen, daß die Berliner SPD die Möglichkeit einer Zusammenarbeit mit der PDS ernsthaft geprüft hat. Daß eine rot-rote Koalition die SPD in den alten Bundesländern im großen Umfang Sympathien gekostet oder gar, wie zunächst von einigen Unionspolitikern behauptet, dem Ansehen der Bundesrepublik in der Welt geschadet hätte, ist eher unwahrscheinlich. Mit dem „Magdeburger Modell“, der SPD-PDS-Koalition in Mecklenburg-Vorpommern, der Abwahl Diepgens mit Hilfe der PDS und schließlich den Aussagen Wowereits zu einer möglichen SPD-PDS-Regierung in Berlin hat die SPD den politischen Spielraum für eine Zusammenarbeit mit den Postsozialisten auf Landesebene längst ausgelotet. Mit Blick auf die Bundestagswahl weitaus interessanter ist deshalb die Frage, ob es der FDP gelingen kann, ihren potentiellen Wählern durch die Beteiligung an zwei denkbar unterschiedlichen Landesregierungen deutlich zu machen, daß sie bereit ist, ihre alte Rolle als bürgerliches Korrektiv und allseits koalitionsfähige Mehrheitsbeschafferin wieder zu übernehmen.

2.4  Fazit

Die großen Diskrepanzen zwischen den Wahlergebnissen in den westlichen und den östlichen Stadtteilen Berlins und insbesondere das hervorragende Abschneiden der PDS in Ostberlin bestätigen einmal mehr die These, daß sich seit 1990 eine regionale Ausdifferenzierung des deutschen Parteiensystems beobachten läßt. Stärker noch als bei den vorangegangenen Bundes- und Landtagswahlen erwies sich die Hauptstadt als Nahtstelle zwischen alten und neuen Ländern.

Sowohl in Hamburg als auch in Berlin wurde das Verhalten der Wähler stark von den lokalen Kandidaten, Ereignissen und Problemen beeinflußt. Das Ausmaß der Wanderungsbewegungen zwischen den Parteien, die in Berlin der CDU die schwersten Verluste ihrer Geschichte brachten und in Hamburg einer neugegründeten Ein-Themen-Partei zur Regierungsbeteiligung verholfen haben, demonstrieren in eindrucksvoller Weise die gestiegene Bereitschaft der Bürger zum politischen Wechsel und den gewachsenen Einfluß kurzfristig wirksamer Faktoren auf das Wahlverhalten.

Wegen dieser Bedeutung der lokalen Einflüsse lassen beide Landtagswahlen keine Rückschlüsse auf die bei der Bundestagswahl 2001 zu erwartenden Stimmenanteile der Parteien zu, zumal Umfragen belegen, daß die Bürger sehr wohl zwischen ihren bundes- und landespolitischen Präferenzen zu trennen vermögen. Beide Wahlen werfen aber ein Schlaglicht auf längerfristig wirksame strukturelle Veränderungen – regionale Ausdifferenzierung, höhere Bereitschaft zur Wechselwahl, schwindende Integrationsfähigkeit der Volksparteien – die mit Sicherheit auch den Ausgang der nächsten Bundestagswahl beeinflussen werden.

3.   Quellen und Literatur

Arzheimer, Kai und Falter, Jürgen W.: "Annäherung durch Wandel?" Das Ergebnis der Bundestagswahl 1998 in Ost-West-Perspektive. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B52/1998, Seiten 33-43.

Brunner, Wolfram und Walz, Dieter (1998): Die Hamburger Bürgerschaftswahl vom 21. September 1997. SPD verliert, Voscherau tritt ab, Rot-Grün koaliert. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen (29), Seiten 275-289.

Fehndrich, Martin und Zicht, Wilko: http://www.wahlrecht.de

Forschungsgruppe Wahlen e.V. (2001): Wahl in Hamburg. Eine Analyse der Bürgerschaftswahl vom 23. September 2001 (=Berichte der Forschungsgruppe Wahlen e.V. Nr. 105). Mannheim: o.V.

Infas (2001): Wählerwanderungsanalyse zur Berliner Abgeordnetenhauswahl vom 21. Oktober 2001 im Vergleich zur Abgeordnetenhauswahl 1999. http://www.infas.de/wahlen/aw_berlin.html

Infratest dimap (2001): Berliner Wähler strafen CDU ab. Kurzanalyse erstellt für die deutsche presse agentur. http://www.infratest-dimap.de/wahlen/berlin01/default.htm

Infratest dimap (2001): Hamburg, eine geteilte Stadt? Kurzanalyse erstellt für die deutsche presse agentur. http://www.infratest-dimap.de/wahlen/hamburg01/default.htm

Niedermayer, Oskar und Stöss, Richard (2000): Die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus vom 10. Oktober 1999. Der gescheiterte Versuch einer politischen Wachablösung. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen (31) Seiten 86-102.

Statistisches Landesamt Berlin: http://www.statistik-berlin.de

Statistisches Landesamt Hamburg: http://www.statistik-hamburg.de

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[1] Der Pedersen-Index ist damit ein Maß für die saldierten Wanderungsbewegungen (Wechselwahl) zwischen den politischen Lagern. Betrachtet das Phänomen der Wechselwahl auf der individuellen Ebene, ergeben sich meist weitaus höhere Werte. Bei der Berechnung der Indexwerte blieben die Nichtwähler unberücksichtigt; Parteien, die in keiner Legislaturperiode im Parlament vertreten waren, wurden zur Kategorie „Sonstige“ zusammengefaßt. Die in diesem Beitrag berichteten Werte beziehen sich damit nur auf solche Wählerbewegungen, die für die Zusammensetzung des Parlamentes und die Regierungsbildung relevant sind.

[2] Die effektive Anzahl der Parteien errechnet sich als1:. pi nimmt dabei nacheinander die Stimmenanteile der im Parlament vertretenen Parteien an.

[3] Mittelwert der Wahlen von 1991, 1993 und 1997.

[4] Ähnlich wie das Wahlsystem auf Bundesebene kombiniert auch das Berliner Wahlrecht Elemente des Mehrheits- und des Verhältniswahlrechts.