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„Annäherung durch Wandel" ?

Das Wahlverhalten bei der Bundestagswahl 1998 in Ost-West-Perspektive

Kai Arzheimer / Jürgen W. Falter

Eine aktualsierte Fassung des Beitrags ist unter http://www.kai-arzheimer.com/Bundestagswahl2002/IstderOstenrot.html verfügbar.

I. Fragestellung

„Staatliche Einheit vollzogen, innere Einheit fraglich" - so läßt sich das Ergebnis vieler empirischer Analysen zum deutschen Einigungsprozeß pointiert zusammenfassen. Zwar wurden die Strukturen des westdeutschen Wirtschafts-, Rechts-, Sozial- und Regierungssystems rasch und weitgehend reibungslos auf die neuen Länder übertragen; zugleich kann aber kein Zweifel darüber bestehen, daß hinsichtlich der politischen Einstellungen und Verhaltensweisen nach wie vor erhebliche Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen bestehen, die sich einerseits auf die unterschiedlichen Sozialisationsbedingungen vor der Vereinigung, andererseits auf die unterschiedlichen Lebenserfahrungen seit der Vereinigung zurückführen lassen.

 

Bitte beachten Sie: Es handelt sich bei diesem Text nicht um die endgültige Druckfassung, sondern um ein Manuskript. Bitte zitieren Sie deshalb nur nach der gedruckten Fassung!

Auch beim Wahlverhalten zeigten sich bei den bisherigen gesamtdeutschen Wahlen Differenzen zwischen den alten und den neuen Ländern, die so gravierend sind, daß Russell J. Dalton und Wilhelm Bürklin mit Blick auf das Wahlergebnis von 1994 von zwei getrennten deutschen Elektoraten sprechen. Dabei wirken die Wahlverhaltensunterschiede zwischen Ost und West auf das Parteiensystem zurück und haben so zu einer Regionalisierung geführt, die sich vor allem in der unterschiedlichen Rolle der PDS zeigt.

Die Ost-West-Differenzen im Wahlverhalten sind somit nicht nur von wissenschaftlichem Interesse, sondern haben eine doppelte politisch-praktische Relevanz: Zum einenZum einen beeinflussen sie direkt die Erfolgschancen der Parteien, zum anderen legen sie indirekt deren Kurs fest, indem sie bestimmte Koalitionen erzwingen bzw. unmöglich machen. Darüber hinaus stellt die Aufgabe, in Ost und West möglicherweise unterschiedliche Wählerschichten ansprechen zu müssen, die Parteien vor neue Herausforderungen. Im folgenden wollen wir untersuchen, ob sich die These von den zwei getrennten deutschen Elektoraten auch für die Bundestagswahl 1998 bestätigen läßt. Dabei analysieren wir zunächst das Wahlergebnis in Ost-West-Perspektive, indem wir die auftretenden Differenzen zwischen alten und neuen Ländern auf der Aggregatebene beschreiben, um einen ersten Eindruck von ihrer Größenordnung und Relevanz zu erhalten. In einem zweiten Schritt fragen wir dann nach den Ursachen für diese Unterschiede auf der Ebene des individuellen Wahlverhaltens, d.h. wir beschäftigen uns mit den Voraussetzungen und den Mechanismen der Wahlentscheidung. Abschließend wenden wir uns den mittelfristigen Perspektiven des Wahlverhaltens im Ost-West-Vergleich zu.

II. Das Ergebnis der Bundestagswahl 1998 in Ost-West-Perspektive

Betrachtet man das Ergebnis der Bundestagswahl von 1998 getrennt nach alten und neuen Ländern, so zeigen sich auch bei dieser Wahl deutliche Unterschiede zwischen beiden Regionen. Auffällig ist zunächst der hohe Stimmenanteil, den die PDS in den neuen Ländern erreichen konnte. Während im Westen weniger als ein Prozent der Wahlberechtigten für die SED-Nachfolgepartei gestimmt haben, gelang es der PDS im Osten, 17 Prozent der Bürger für sich zu mobilisieren und damit drittstärkste politische Kraft in den neuen Ländern zu bleiben.

Quelle: Amtliches Endergebnis 1998 (in Prozent der Wahlberechtigten)

Abbildung 1: Das Wahlergebnis 1998 in Ost-West-Perspektive.

Fast spiegelbildlich stellt sich das Wahlergebnis für die FDP und die Grünen dar: Beide Parteien erreichen im Westen jeweils rund sechs Prozent der Stimmberechtigten, im Osten hingegen nur etwa die Hälfte dieses Anteils. Die Liberalen bleiben damit 1998 in allen neuen Ländern, Bündnis ‘90/Die Grünen in den neuen Ländern außer dem früheren Ostteil von Berlin unter der Fünfprozenthürde. Stellt man darüber hinaus in Rechnung, daß FDP und Grüne derzeit in keinem der ostdeutschen Landtage vertreten sind und die Grünen in den neuen Ländern außerdem mit ernsten organisatorischen Problemen zu kämpfen haben, erscheint es angemessen, beide Gruppierungen analog zur Rolle der PDS in den neuen Ländern als westdeutsche Regionalparteien einzustufen.

Auch die beiden großen Parteien müssen sich im Osten mit einem deutlich geringeren Stimmenanteil begnügen als in den alten Ländern. Die SPD bleibt in den neuen Ländern um sieben, die Union um neun Prozentpunkte hinter dem Ergebnis im Westen zurück. Dafür liegt der Anteil der Nichtwähler mit 20 Prozent etwas höher als im Westen, und die „sonstigen" Parteien, also Republikaner und DVU sowie diverse Kleinstparteien konnten im Gebiet der früheren DDR insgesamt fast sieben Prozent der Wahlberechtigten mobilisieren, im Westen dagegen nur gut vier Prozent.

Quelle: Amtliche Endergebnisse der Bundestagswahlen 1990 bis 1998

Abbildung 2: Entwicklung der Bundestagswahlergebnisse in den alten Ländern 1990 bis 1998

Die bisher skizzierten Ost-West-Differenzen beziehen sich lediglich auf Unterschiede in der Unterstützung der Parteien zum Zeitpunkt der Bundestagswahl 1998. Erweitert man die Betrachtung um eine dynamische Komponente und vergleicht die Entwicklung der Wahlergebnisse seit 1990 in Ost-West-Perspektive, so zeigt sich in den neuen Ländern darüber hinaus eine sehr viel höhere Aggregatvolatilität als im Westen, das heißt vereinfacht ausgedrückt, die Ergebnisse zweier aufeinanderfolgender Wahlen unterscheiden sich stärker. Dies gilt sowohl für den Vergleich der Wahlen von 1994 und 1990 als auch für die Entwicklung zwischen 1994 und 1998. In beiden Fällen waren die Verschiebungen zwischen den Parteien bzw. dem Lager der Nichtwähler in den neuen Bundesländern weitaus dramatischer als im Gebiet der alten Bundesrepublik, wie in Abbildung 43 zu erkennen ist: Die Zu Zugewinne der SPD und die Verluste der Union sind im Osten höher als im Westen, hinzu kommen der Aufstieg der PDS, deren Wählerschaft sich zwischen 1990 und 1998 mehr als verdoppelt hat, ferner die schweren Verluste für die FDP, von denen sich die Partei auch bei der aktuellen Bundestagswahl nicht erholen konnte, sowie die relativ große Unterstützung für die Kleinparteien und nicht zuletzt der starke Anstieg der Wahlbeteiligung 1998.

Quelle: Amtliche Endergebnisse der Bundestagswahlen 1990 bis 1998

Abbildung 3: Entwicklung der Bundestagswahlergebnisse in den neuen Ländern 1990 bis 1998

Als Möglichkeit, die Verschiebungen zwischen zwei Wahlergebnissen übersichtlich in einer einzigen Maßzahl zusammenzufassen, bietet sich die Bildung eines Summenindex an, in den die aufaddierten Gewinne der erfolgreichen Parteien sowie der Anstieg des Nichtwähleranteils eingehen. Dabei nimmt der Index den Wert 0 an, wenn es zu keinerlei Schwankungen im Wahlergebnis kommt, und erreicht bei einer völligen Neuordnung der politischen Landschaft seinen maximalen Wert von 100.

Quelle: Berechnet nach den amtlichen Endergebnissen 1949-1998

Abbildung 4: Aggregatvolatilität (Bundestagswahlen) in den alten und den neuen Ländern

Berechnet man diese Meßgröße getrennt für alte und neue Länder, so zeigt sich, daß bei den Wahlen von 1994 und 1998 im Osten jeweils mehr als doppelt so hohe Schwankungen auftreten wie im Gebiet der alten Bundesrepublik. Dort kam es nur bei der Bundestagswahl 1953 zu vergleichbaren Verschiebungen zwischen den politischen Lagern, als die Union ihren Anteil an den Wahlberechtigten von 24 auf 38 Prozent steigern konnte.

Es bleibt also festzuhalten, daß bei den bisherigen Bundestagswahlen in den neuen Ländern weitaus stärkere Schwankungen zwischen den Ergebnissen aufgetreten sind als im Westen der Bundesrepublik. Zugleich ist es bisher keineswegs zu einer Annäherung zwischen beiden Regionen gekommen. Die Wahlergebnisse in Ost- und Westdeutschland unterscheiden sich, wie oben gezeigt, vielmehr nach wie vor deutlich voneinander. Auf der Ebene des Aggregats hat sich die These von den zwei getrennten deutschen Elektoraten somit auch 1998 bestätigt. Aus diesem Befund ergibt sich als nächstes die Frage, wie sich die Unterschiede im Wahlergebnis auf der individuellen Ebene, also durch Betrachtung der politischen Orientierungen und Verhaltensweisen der einzelnen Bürger, erklären lassen. Dazu ist es nötig, die These von den zwei getrennten Elektoraten genauer zu spezifizieren und im Zusammenhang damit auf die dieser These zugrundeliegende Theorie des Wahlverhaltens einzugehen.

III. Muster des Wahlverhaltens in Deutschland

Betrachtet man das Wahlverhalten in der alten Bundesrepublik, so zeigen sich über die Jahre hinweg erstaunlich starke und weitgehend konstante Beziehungen zwischen der Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen und der Präferenz für bestimmte politische Parteien. In Anlehnung an Seymour Martin Lipset und Stein Rokkan werden diese Zusammenhänge auf historische Großkonflikte zurückgeführt, die in allen europäischen Gesellschaften aufgetreten sind. Für Deutschland prägend waren vor allem zwei gesellschaftliche Auseinandersetzungen, deren Ursprung im 19. Jahrhundert liegt:

der Konflikt zwischen Arbeit und Kapital, der die Entstehung der Arbeiterbewegung und letztlich die Gründung der SPD zur Folge hatte

die Auseinandersetzungen zwischen Staat und katholischer Kirche, die zur Politisierung des katholischen Milieus in Deutschland und zur Gründung der Zentrumspartei führten.

Sowohl das Zentrum als auch die Sozialdemokratie verstanden sich in den Jahren nach ihrer Gründung vor allem als Interessenvertreter ihrer Bezugsgruppen und bildeten den parteipolitischen Kristallisationspunkt ihres jeweiligen „sozialmoralischen Milieus" (Rainer Lepsius). Die damals entwickelten und seitdem tradierten Bindungen zwischen den Angehörigen der sozialen Großgruppen „Arbeiterschaft" bzw. „Katholiken" einerseits und den entsprechenden Parteien andererseits, so die Theorie, strukturieren bis heute die politische Landschaft der alten Bundesrepublik und sind dafür verantwortlich, daß Arbeiter überdurchschnittlich häufig die SPD, Katholiken überdurchschnittlich häufig die Union als (überkonfessionelle) Nachfolgepartei des Zentrums wählen, auch wenn kurzfristige Einflüsse an Bedeutung gewonnen haben und die Prägekraft der traditionellen Sozialmilieus zurückgeht. Die Zugehörigkeit zu einer dieser Gruppen legt die Wahlberechtigten in ihrem Wahlverhalten zwar nicht fest, hat aber einen entscheidenden Einfluß auf die Wahrscheinlichkeit einer bestimmten Wahlentscheidung.

An diesem Punkt setzt nun die von Dalton und Bürklin vertretene These von den zwei Elektoraten an, die im Grunde genommen aus zwei Teilhypothesen besteht. Zum einen konstatieren die Autoren, daß sich die ost- und die westdeutsche Wählerschaft in ihrer sozialstrukturellen Zusammensetzung stark unterscheiden. Dabei beziehen sie sich nicht nur auf den im Vergleich zum Westen relativ hohen Arbeiteranteil im Osten der Bundesrepublik, sondern vor allem auch auf den sehr niedrigen Anteil der Katholiken sowie den sehr hohen Anteil der Konfessionslosen in der Bevölkerung der neuen Länder. Die Ostdeutschen seien im Mittel weniger von den Kirchen geprägt als die Westdeutschen, was sich auch in den politischen Einstellungen, zum Beispiel zur Straffreiheit der Abtreibung niederschlage. Schon deshalb sei es legitim, von zwei getrennten Elektoraten zu sprechen.

Quelle: DFG-Projekt Querschnitt 1998

Abbildung 5: Sozialstrukturelle Zusammensetzung der Wählerschaft in den alten und den neuen Ländern (Berufsgruppen)

Quelle: DFG-Projekt Querschnitt 1998

Abbildung 6: Sozialstrukturelle Zusammensetzung der Wählerschaft in den alten und den neuen Ländern (Konfession)

Da sich die Sozialstruktur einer Gesellschaft naturgemäß nur langsam wandelt, steht zu erwarten, daß sich dieser Teil der These von 1994 auch für das Jahr 1998 bestätigen läßt. Abbildung 5 und Abbildung 6 zeigen, daß in der Tat sowohl der Arbeiteranteil als auch der Anteil der Menschen ohne Konfession in den neuen Ländern sehr viel höher liegt als im Westen. Nach diesem Ergebnis wäre davon auszugehen, daß die PDS und die SPD sich im Osten der Bundesrepublik publikauf eine breite elektorale Basis stützen könnten, während die Union strukturell benachteiligt wäre.

Dalton und Bürklin behaupten nun aber, daß der Zusammenhang zwischen Gruppenzugehörigkeit und Wahlentscheidung in den neuen Ländern einem grundsätzlich anderenm Muster als den oben für die alte Bundesrepublik skizzierten Tendenzen folgte. Die Konfessionszugehörigkeit, so die Autoren, habe zwar einen ähnlichen Einfluß auf das Wahlverhalten wie im Westen, sei aber von untergeordneter Bedeutung, da die überwältigende Mehrheit der neuen Bundesbürger keiner Religionsgemeinschaft angehöre. Bei der Wirkung der Klassenzugehörigkeit hingegen trete im Gebiet der früheren DDR eine „Anomalie", eine „Umkehrung" der aus der alten Bundesrepublik und anderen westeuropäischen Ländern bekannten Muster auf: Sowohl 1990 als auch 1994 habe die Arbeiterschaft weit überproportional die Union unterstützt, während sich die Mittelklasse leicht überproportional für die SPD und die PDS entschieden habe. Dalton und Bürklin erklären dieses aus westlicher Sicht ungewöhnliche Wahlverhalten aus den historischen Erfahrungen der Bevölkerung im Gebiet der früheren DDR, die entgegen ihrem offiziellen Selbstverständnis kein Staat der Arbeiter und Bauern, sondern der Parteieliten gewesen sei, sowie durch die unklare Position der SPD zur Wiedervereinigung. Die Arbeiter hätten sich deshalb, entgegen der Erwartung, mehrheitlich nicht den sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Parteien, sondern vielmehr der christlich-bürgerlichen CDU zugewandt.

Daraus, daß sich die „Anomalie" von 1990 im Wahlverhalten von 1994 wiederholt habe, ziehen Dalton und Bürklin darüber hinaus den Schluß, daß sich Teile der Arbeiterschaft in den neuen Ländern womöglich dauerhaft an die Union gebunden hätten. Diese von Dalton und Bürklin vermutete längerfristige Umkehrung der aus dem Westen Deutschlands bekannten Muster des Wahlverhaltens stellt den zweiten Teil der These von den zwei getrennten Elektoraten dar.

 

Union

SPD

FDP

B90/GR

PDS

(N)

alte Länder

           

Arbeiter

34

61

1

4

0

178

(1994)

(38)

(57)

(1)

(4)

(0)

(258)

Angestellte

36

48

5

11

1

359

(1994)

(39)

(40)

(8)

(13)

(0)

(386)

neue Länder

           

Arbeiter

32

44

4

1

18

142

(1994)

(52)

(34)

(3)

(2)

(10)

(395)

Angestellte

26

42

3

5

26

149

(1994)

(34)

(33)

(4)

(8)

(22)

(386)

Quelle: DFG-Projekt Querschnitt 1998, Angaben für 1994 nach Dalton und Bürklin a. a. O., S. 84

Tabelle 1: Wahlabsicht 1998 und 1994 nach Berufsgruppenzugehörigkeit und Region

Um zu prüfen, ob sich diese Vermutung aufrechterhalten läßt, haben wir zunächst die Wahlabsicht getrennt nach Regionen und Berufsgruppen untersucht (vgl. Tabelle 1). Dabei zeigt sich, daß von einer Umkehrung der Muster des berufsgruppenspezifischen Wahlverhaltens 1998 offensichtlich nicht mehr die Rede sein kann: Während nach Dalton und Bürklin 1994 noch 52 Prozent der Arbeiter in den neuen Ländern für die Union votiert haben, sind es nunmehr nur noch 32 Prozent, die für die CDU stimmen wollten, was fast exakt dem Wert für die alten Länder entspricht. Umgekehrt erreichen SPD und PDS gemeinsam bei den Arbeitern einen Anteil, der in etwa dem Anteil der SPD im Westen entspricht. Damit stellt sich die Frage, ob die ostdeutschen Arbeiter nun mit der Bundestagswahl 1998 das aus dem Westen bekannte Muster des Wahlverhaltens dauerhaft übernommen haben oder ob sie in ihrer Wahlentscheidung schlicht flexibler sind als ihre westdeutschen Kollegen. Um diese Frage beantworten zu können, ist es notwendig, in einem weiteren Analyseschritt die längerfristigen Parteibindungen in Ost und West genauer zu untersuchen.

IV. Parteibindungen in den alten und den neuen Bundesländern

Unter dem Konzept der Parteiidentifikation versteht man in der Wahlforschung die längerfristig stabile Bindung eines Bürgers an eine bestimmte Partei. Menschen mit einer solchen Parteiidentifikation betrachten sich selbst über einen längeren Zeitraum hinweg als Anhänger der entsprechenden Partei. Parteibindungen werden im Laufe der politischen Sozialisation erworben, wobei wie in Punkt III dargestellt, die Zugehörigkeit zu sozialen Großgruppen wie der Arbeiterschaft eine zentrale Rolle spielt. Die Parteibindung beeinflußt die Wahrnehmung des politischen Geschehens und hat einen erheblichen Einfluß auf das Wahlverhalten, auch wenn parteigebundene Bürger unter dem Eindruck kurzfristig wirksamer Faktoren – hier ist in erster Linie an die zur Wahl stehenden Kandidaten und an die im Wahlkampf relevanten Sachfragen zu denken – gelegentlich für eine andere Partei votieren, sich gar nicht an der Wahl beteiligen oder die ursprüngliche Parteibindung aufgeben.

 

Union

SPD

andere

(N)

Bindung ‘94: Union

70

16

14

97

Bindung ‘94: SPD

11

77

11

98

Quelle: DFG-Projekt Panel 1994-1998

Tabelle 2: Wahlabsicht 1998 in Abhängigkeit von der Parteibindung 1994 (nur alte Länder)

An einer besonderen Stichprobe, für die 1994 und 1998 jeweils dieselben Personen im Vorfeld der Bundestagswahl die selben Personen befragt wurden, können wir die langfristige Wirksamkeit von Parteibindungen in den alten Ländern exemplarisch darstellen, indem wir untersuchen, welchen Einfluß eine 1994 gemessene Einstellung auf das Wahlverhalten von 1998 hat. Dabei zeigt sich (vgl. Tabelle 32), daß 70 Prozent derjenigen, die sich 1994 als Anhänger der Union bezeichneten, vier Jahre später ihre Stimme auch tatsächlich für diese Partei abgeben wollten. Für die Sozialdemokraten liegt der entsprechende Anteilswert sogar bei 77 Prozent. Allen Individualisierungsprozessen zum Trotz leisten längerfristige, im allgemeinen sozialstrukturell vermittelte Parteibindungen somit in der alten Bundesrepublik nach wie vor einen wichtigen Beitrag zur Erklärung politischen Verhaltens.

Es besteht aber einige Unklarheit darüber, ob sich das Konzept auch auf die neuen Länder übertragen läßt. Einerseits gab es in der früheren DDR keinen Wettbewerb zwischen den Parteien, weshalb es wenig sinnvoll erscheint, nach Parteigängern im westlichen Sinne zu suchen. Eine Ausnahme könnten hier allenfalls jene Personen bilden, die die Herrschaft der SED unterstützt haben oder zumindest das bestehende Regime reformieren wollten. Andererseits konnten viele DDR-Bürger westliche Fernsehprogramme empfangen und waren deshalb über das politische Geschehen im Westen gut informiert, so daß ein Teil von ihnen „Quasiparteibindungen" entwickelt haben könnte. Während über die Bedeutung von Parteiidentifikationen vor der Wiedervereinigung aus naheliegenden Gründen keine empirisch abgesicherten Aussagen möglich sind, läßt sich seit 1990 die Entwicklung in beiden Gebieten relativ gut nachzeichnen.

Quelle: IPOS-Befragung 1991, DFG-Projekt Querschnitt 1994 und Querschnitt 1998

Abbildung 7: Anteil der Wahlberechtigten ohne Parteiidentifikation nach Region

In den alten Ländern liegt der Anteil der Wahlberechtigten, die keine Parteiidentifikation aufweisen, in allen drei Erhebungsjahren bei etwas weniger als 30 Prozent. In den neuen Ländern hingegen gab 1991 erwartungsgemäß fast die Hälfte aller Befragten an, daß sie sich keiner Partei verbunden fühle. Seitdem ist dieser Anteil gesunken, liegt aber immer noch deutlich über dem westlichen Niveau.

Allerdings scheint die Beantwortung der Frage nach der Parteiidentifikation in den neuen Ländern in wesentlich größerem Umfang von Mobilisierungseffekten des Wahlkampfes beeinflußt zu werden als im Westen, wie ein Vergleich mit Daten der Forschungsgruppe Wahlen zeigt. So gaben in den von der Forschungsgruppe monatlich durchgeführten Befragungen für das Politbarometer zu Beginn und zum Ende des Jahres 1994 jeweils rund 50 Prozent der befragten Ostdeutschen an, keine Parteiidentifikation zu haben, während im Oktober 1994 mit 40 Prozent ein Wert erreicht wurde, der den Ergebnissen unserer eigenen Untersuchung, die kurz vor der Wahl durchgeführt wurde (vgl. FN ), in etwa entspricht. Im Westen hingegen schwankt der gemessene Anteil der Personen ohne Parteiidentifikation in relativ geringem Umfang.

Zusammengenommen deuten diese Befunde darauf hin, daß der Anteil der parteigebundenen Bürger in den neuen Ländern immer noch deutlich unter dem westlichen Niveau liegt und darüber hinaus die vorhandenen Bindungen instabiler sind als in den alten Ländern. Dazu paßt, daß 11 Prozent der 1998 befragten Ostdeutschen angaben, ihre Parteibindung erst im Verlauf der letzten Monate erworben zu haben (West: 3 Prozent) und 41 Prozent der Parteigebundenen der Aussage „Die Partei an sich bedeutet mir weniger, aber sie macht zur Zeit die bessere Politik" zustimmen – der Vergleichswert für die alten Länder beträgt 32 Prozent.

 

Union

SPD

andere

keine

(N)

alte Länder

         

Bindung ‘94: Union

69

13

3

16

110

Bindung ‘94: SPD

9

67

8

16

112

neue Länder

         

Bindung ‘94: Union

49

13

5

33

120

Bindung ‘94: SPD

4

53

12

32

120

Quelle: DFG-Projekt Panel 1994-1998

Tabelle 3: Parteibindung 1998 in Abhängigkeit von der Parteibindung 1994 und der Region

Für jene ausgewählte Gruppe von Personen, die sowohl 1994 als auch 1998 befragt wurden, können wir die Stabilität von Parteibindungen auch direkt untersuchen (vgl. Tabelle 3). Dabei zeigt sich, daß die große Mehrheit der befragten Bürger in den alten Ländern 1998 ihre Parteiidentifikation beibehalten hat. 69 Prozent der Unions- und 67 Prozent der SPD-Anhänger von 1994 bekennen sich nach wie vor zu diesen Parteien. Rund 16 Prozent haben sich einer anderen Partei zugewandt, ein gleich großer Anteil gibt 1998 an, sich mittlerweile keiner Partei mehr verbunden zu fühlen.

In den neuen Ländern hingegen haben lediglich 49 Prozent der Unionsanhänger und 53 Prozent derjenigen, die sich 1994 mit der SPD identifizierten, diese Einstellung beibehalten. Nur ein kleiner Teil der Parteianhänger von 1994 ist zu einer anderen Partei übergewechselt, dafür identifiziert sich 1998 fast ein Drittel der Parteianhänger von 1994 mit keiner Partei mehr. Zusammenfassend läßt sich also festhalten, daß dauerhafte Parteibindungen, die in den alten Ländern die Wahrnehmung des politischen Geschehens filtern und die Wahlentscheidung beeinflussen, im Gebiet der früheren DDR weit weniger verbreitet sind und sich im Zeitverlauf häufig als instabiler erweisen. Dennoch gibt es auch in den neuen Ländern Bürger, die sich langfristig mit einer bestimmten Partei identifizieren. Es ist im folgenden zu fragen, in welchem Zusammenhang die Zugehörigkeit zu den sozialen Großgruppen und das Vorliegen bestimmter Parteibindungen stehen.

 

Union

SPD

FDP

B90/GR

PDS

keine

(N)

alte Länder

             

Arbeiter

27

44

0

3

0

27

230

Angestellte

29

32

2

7

0

29

452

neue Länder

             

Arbeiter

23

26

2

1

6

43

204

Angestellte

23

26

2

3

16

31

199

Quelle: DFG-Projekt Querschnitt 1998

Tabelle 4: Parteiidentifikation 1998 nach Berufsgruppenzugehörigkeit und Region

Tabelle 4 zeigt zunächst, daß sich in den alten Ländern 44 Prozent der Arbeiter mit der SPD identifizieren. Zwischen großen Teilen der Arbeiterschaft und der SPD bestehen also nach wie vor jene historisch begründeten Bindungen, die wir in Punkt III dargestellt haben. 27 Prozent der Arbeiter identifizieren sich mit der Union, ein gleich großer Anteil der Befragten fühlt sich nach eigenen Angaben keiner Partei verbunden. Die Arbeiter unterscheiden sich damit deutlich von der Gruppe der Angestellten, von denen sich nur 32 Prozent mit der SPD identifizieren.

Betrachtet man hingegen die neuen Länder, so erkennt man, daß die Arbeiter weder die traditionelle Bindung an die Sozialdemokratie (oder die dezidiert sozialistische PDS) aufweisen, noch, wie von Dalton und Bürklin vermutet, im Gefolge der Wahlen von 1990 und 1994 eine dauerhafte Bindung an die Union als Partei der Wiedervereinigung entwickelt haben. 43 Prozent der Arbeiter haben vielmehr keinerlei Parteibindung. Damit hebt sich diese Großgruppe sowohl von ihren westdeutschen Kollegen als auch von den ostdeutschen Angestellten ab, von denen sich immerhin 16 Prozent mit der PDS identifizieren. Fehlende längerfristige Partiebindungen jedoch fördern die Wechselbereitschaft. Unter den ostdeutschen Arbeitern gibt es daher deutlich mehr potentielle Wechselwähler als unter ihren westdeutschen Kollegen oder den anderen Sozialgruppen in den Neuen Ländern.

V. Zusammenfassung und Ausblick

Unsere Analysen haben gezeigt, daß sich die These von den zwei getrennten deutschen Elektoraten, wenn auch in modifizierter Form, bestätigen läßt: Auch 1998 unterscheiden sich die Ergebnisse in den beiden Landesteilen deutlich. Die Ursache hierfür liegt vor allem darin, daß die Bürger in den neuen Ländern bisher kaum sozialstrukturell vermittelte Parteibindungen aufweisen. Dies gilt vor allem für die relativ große Gruppe der Arbeiter, die, anders als von Dalton und Bürklin vermutet, bisher keineswegs in Umkehrung der westlichen Muster eine längerfristig wirksame Bindung an die Union entwickelt haben. Vielmehr fühlen sich die Arbeiter in den neuen Ländern im Gegensatz zu ihren westlichen Kollegen mehrheitlich keiner Partei besonders verbunden. Die 1998 zu beobachtende Annäherung an westliche Wahlverhaltensmuster ist daher primär als Ergebnis einer höheren Wechselbereitschaft zu interpretieren. Schon die nächste Wahl könnte daher zu einer neuerlichen Umkehr der Wählerkoalitionen führen. Auf absehbare Zeit ist folglich im Osten mit deutlich stärkeren Schwankungen des Wahlverhaltens zu rechnen als im Westen.

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