Review of Tim Spier’s "Modernisierungsverlierer": Die Wählerschaft rechtspopulistischer Parteien in Westeuropa (in German)

I’ve just finished a review of Tim Spier’s new book on the electorates of the Western European populist right for a yearbook. Since the yearbook is not due to appear before September, here’s the text for your edification (in German)

Tim Spier: Modernisierungsverlierer? Die Wählerschaft rechtspopulistischer
Parteien in Westeuropa. Wiesbaden: VS. 2010, 302 Seiten.

In fast allen westeuropäischen Ländern sind in den letzten drei Jahrzehnten elektoral relevante Parteien entstanden, die als „rechts“ einzuordnen sind, aber sich in ihrer Programmatik, ihrem politischen Stil und oft auch in ihrer internen Organisation deutlich von den bereits existierenden konservativen oder christdemokratischen Parteien abheben. In der Literatur wurde eine Vielzahl von Bezeichnungen wie „rechtsradikal“, „rechtsextrem“ oder „rechtspopulistisch“ vorgeschlagen, um die Besonderheiten dieser Parteiengruppe zu charakterisieren, ohne daß sich ein einziger Begriff hätte durchsetzen
können.

Mindestens ebenso umfangreich wie die deutschsprachige und internationale Literatur zu diesen Parteien selbst ist das Schrifttum, das sich mit ihren Wählern beschäftigt. Neben einer nicht mehr überschaubaren Zahl von Länderstudien wurden seit den Pionierstudien der 1980er und frühen 1990er Jahre (Beyme1988Betz1993Kitschelt1995) eine ganze Reihe von vergleichenden Analysen publiziert, die die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Elektoraten der neuen Rechtsparteien in den Blick nehmen. Dabei zeigte sich immer wieder, daß die Parteien der Extremen Rechten in den verschiedenen Ländern eine vergleichbare soziale Basis haben und von denselben Themen – vor allem der Frage nach dem Zuzug von Nicht-Westeuropäern – profitieren.

In den Reigen dieser Analysen reiht sich nun die 2008 abgeschlossene Dissertation von Tim Spier ein, deren Buchfassung im letzten Jahr bei VS. erschienen ist. Der Aufbau des Buches entspricht der fast schon kanonischen Struktur einer Wähleranalyse: Auf die Einleitung folgt die Diskussion von Grundbegriffen, Indikatoren und Hypothesen, an die sich ein Überblicküber die verwendeten Daten (in diesem Fall die beiden ersten Wellen des European Social Survey von 2002 und 2004) und die eigentlichen Analysen anschließen.

Von vergleichbaren Arbeiten unterscheidet sich Spiers Beitrag vor allem dadurch, daß er sich auf eine einzigen Ansatz zur Erklärung der Wahl rechtspopulistischer (dies ist der von ihm bevorzugte Begriff) Parteien, nämlich auf die sogenannte „Modernisierungsverliererhypothese“ konzentriert und wesentliche Teile dieses Ansatzes in einer Vielzahl von Operationalisierungen empirisch überprüft. Dabei gelangt er zu dem Schluß, daß fast unabhängig von der exakten Operationalisierung bzw. Definition das Merkmal „Modernisierungsverlierer“ in allen acht untersuchten Ländern (Belgien, Deutschland, Dänemark, Frankreich, Italien, Niederlande, Norwegen,Österreich, Schweiz) die Wahrscheinlichkeit der Wahl einer rechtspopulistischen Partei
signifikant erhöht.

Die Zahl der von Spier überprüften Operationalisierungen ist beeindruckend: Neben eher naheliegenden Größen wie Arbeitslosigkeit und Klassenzugehörigkeit untersucht er den Effekt sieben weiterer Variablen, darunter die „soziale Exklusion“ der Betroffenen oder die Arbeit in einem „prekären“ Beschäftigungsverhältnis. Diese konzeptuelle Vielfalt ist kein Ausdruck von Beliebigkeit, sondern resultiert aus Spiers umfassender Lektüre der Literatur zum Modernisierungsverlierer-Ansatz.

Als dessen bekannteste Vertreter können zumindest im deutschen Sprachraum Scheuch und Klingemann (1967) gelten. Neben diesem Klassiker berücksichtigt Spier aber noch eine ganze Reihe ähnlicher Ansätze, die er zu einer (rekonstruierten) Modernisierungsverlierer-Theorie zu verbinden versucht.

Ganz generell verfügt Spier über einen ausgezeichneten Überblick über die deutschsprachige und internationale Literatur zu seinem Gegenstand. Sein Buch ist stringent aufgebaut und in weiten Teilen sehr gut lesbar, wenn man einmal davon absieht, daß der parallele Test von neun in Teilen doch recht ähnlichen Operationalisierungen, die sich alle auf denselben Gegenstand beziehen, zwangsläufig gewisse Redundanzen beinhaltet.

Zu bemängeln wäre im theoretischen Teil des Buches allenfalls, daß der Autor aus dem komplexen Verkettung kausaler Mechanismen, die Scheuch und Klingemann skizzieren (Arzheimer und Falter2002), nur das letzte bzw. vorletzte Glied, nämlich die – eventuell über „rechtsaffine“ Entscheidungen vermittelte – Verknüpfung zwischen Gruppenzugehörigkeit und Wahlentscheidung betrachtet. Dies führt im Ergebnis zu einer extrem fokussierten, aber auch sehr braven Analyse mit vorhersehbaren Ergebnissen.

Auch die empirische Überprüfung der Hypothesen bewegt sich im Rahmen des Erwartbaren. Einige der Kreuz- und Mittelwerttabellen hätten ohne weiteres in einen Anhang verschoben oder ganz entfallen können.

Die multivariaten Analysen beschränken sich auf binäre logistische Regressionen über den Gesamtdatensatz von acht Ländern, in denen Wähler der rechtspopulistischen Parteien allen anderen Wählern gegenübergestellt werden.
Richtigerweise schließt Spier die Existenz von Ländereffekten nicht a priori aus, sondern rechnet stets eine Variante seiner Modelle, die entsprechende Dummy-Variablen enthält. Dabei zeigt sich durchgängig, daß Unterschiede in der Zusammensetzung der Elektorate (etwa ein größerer Anteil von Modernisierungsverlierern oder politisch Unzufriedenen in einem Land) die großen Unterschiede in den Erfolgen der rechtspopulistischen Parteien etwa zwischen Deutschland und Österreich nicht vollständig zu erklären vermögen.

Wodurch diese Unterschiede zustande kommen bleibt weitgehend unklar und ist mit dem European Social Survey auch nicht zu klären. Dies ist nicht dem Autor anzulasten: Für eine weitergehende Analyse werden neben den Individualdaten auch längsschnittliche Makro-Daten benötigt, deren Analyse über Spiers Zielsetzung hinausgeht und eigene Probleme mit sich bringt.

Trotzdem hätte man sich an vor allem im letzten Teil der Arbeit gewünscht, daß der Autor analytisch noch etwas stärker in die Tiefe geht und beispielsweise prüft, ob die Variablen, die den Status als Modernisierungsverlierer repräsentieren, in allen Ländern den gleichen Effekt haben. Vor allem hätte man aber die von Scheuch und Klingemann postulierten Mechanismen, nach denen objektiven Eigenschaften und subjektiven Einstellungen bei der Wahl der Rechten zusammenspielen, noch etwas differenzierter betrachten können.

Spier nähert sich dieser Frage, in dem er nach der ausführlichen Betrachtung objektiver Merkmale analog dazu die Wirkung von Einstellungen untersucht und schließlich beide Variablengruppen in einem Gesamtmodell kombiniert, das – zusammen mit den Ländereffekten – die Wahl der rechtspopulistischen Parteien recht gut erklären kann. Positiv hervorzuheben ist hier vor allem, daß Spier die Wirkung eines generalisierten Mißtrauens gegenüber anderen Menschen („Misanthropie“) berücksichtigt und so eine Verknüpfung mit der Sozialkapitaldebatte und der älteren Diskussion über soziale Desintegration und Rechtsextremismus herstellt.

Darüber hinaus zeigt sich, daß sich die Effekte der Mondernisierungsverlierer-Variablen gegenüber dem Ausgangsmodell deutlich abschwächen, wenn die Einstellungen kontrolliert werden. Dieser Befund bedeutet, daß ganz im Sinne der Theorie die Einstellungen der befragten Wähler zumindest teilweise als eine intervenierende Variable  wirken. Zugleich gibt es aber (1) Effekte des Modernisierungsverlierer-Status auf die Wahlentscheidung, die unabhängig
von den hier betrachteten Einstellungen sind und (2) Antezedenzien der Einstellungvariablen, die nichts mit dem Modernisierungsverlierer-Status zu tun haben. Mit Hilfe eines Pfadmodells hätte man die entsprechenden Kausalpfeile direkt abbilden und ihre Relevanz über die acht Länder hinweg vergleichen können, was das Argument noch einmal etwas stärker gemacht hätte.

Dies alles tut der Leistung des Autors aber keinen Abbruch. Tim Spier hat mit akribischer Gründlichkeit den zentra len Aspekt einer der prominentesten Ansätze zur Wahl der neuen Rechten operationalisiert. Daß Modernisierungsverlierer eine überproportionale Neigung zur Wahl der neuen Rechten haben, wird in der wissenschaftlichen und politischen Diskussion allzu oft als selbstverständlich vorausgesetzt. Spiers Verdienst ist es, daß er auf breiterempirischer Basis gezeigt hat, daß dies in acht wichtigen westeuropäischen Ländern tatsächlich der Fall ist.

Literatur


Arzheimer, Kai und Jürgen W. Falter (2002): Die Pathologie
des Normalen. Eine Anwendung des Scheuch-Klingemann-Modells zur
Erklärung rechtsextremen Denkens und Verhaltens, in: Dieter Fuchs,
Edeltraud Roller und Bernhard Weßels (Hrsg.): Bürger und Demokratie in
Ost und West. Studien zur politischen Kultur und zum politischen Prozeß.
Wiesbaden, Westdeutscher Verlag, S. 85–107.


Betz, Hans-Georg (1993): The New Politics of Resentment. Radical
Right-Wing Populist Parties in Western Europe, in: Comparative Politics
25, S. 413–427.


Beyme, Klaus (Hrsg.) (1988): Right-Wing Extremism in Western Europe.
London, Frank Cass.


Kitschelt, Herbert (1995): The Radical Right in Western Europe. A
Comparative Analysis. Ann Arbor, The University of Michigan Press.


Scheuch, Erwin K. und Hans-Dieter Klingemann (1967): Theorie des
Rechtsradikalismus in westlichen Industriegesellschaften, in: Hamburger
Jahrbuch für Wirtschafts- und Sozialpolitik 12, S. 11–29.

 

Review of Tim Spier's "Modernisierungsverlierer": Die Wählerschaft rechtspopulistischer Parteien in Westeuropa (in German) 1

Leave a Comment

This site uses Akismet to reduce spam. Learn how your comment data is processed.