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    Arzheimer, Kai. "Im Osten nichts Neues? Die elektorale Unterstützung von AfD und Linkspartei in den alten und neuen Bundesländern bei der Bundestagswahl 2021." Wahlen und Wähler - Analysen aus Anlass der Bundestagwahl 2021. Eds. Schoen, Harald and Bernhard Wessels. Wiesbaden: Springer, 2023. .
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Im Osten nichts Neues? Die elektorale Unterstützung von AfD und Linkspartei in den alten und neuen Bundesländern bei der Bundestagswahl 2021

Einleitung und Fragestellung

Die letzte Volkskammerwahl und die ostdeutschen Landtagswahlen von 1990, spätestens aber die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl vom Dezember 1990, markieren den Beginn der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Ost-West-Unterschieden im Wahlverhalten der Deutschen (siehe z.B. Kaltefleiter und Lübcke 1991; Eckstein und Pappi 1994; Falter 1995). Bereits in den frühen 1990er Jahre war die Vorstellung, dass Ost- und Westdeutsche zwei getrennte Elektorate bilden, fest etabliert (siehe z.B. Dalton und Bürklin 1995), und ab der Bundestagswahl von 2002 enthielt jeder Band der vorliegenden Reihe ein Kapitel, das sich ausschließlich mit den Differenzen zwischen diesen beiden Gruppen befasst (Arzheimer und Falter 2005, 2013; Kaspar und Falter 2009; Arzheimer 2016, 2021).

Die Gründe für dieses konstante Interesse liegen auf der Hand. Von ihren offensichtlichen politischen Konsequenzen abgesehen sind die nunmehr seit drei Jahrzehnten zu verzeichnenden Ost-West-Differenzen erstens Ausdruck der anhaltenden regionalen Ausdifferenzierung des deutschen Parteiensystems (Hough und Jeffery 2006; Niedermayer 2009; Wagner 2022). Sie werden zweitens als Resultat unterschiedlicher politischer Kulturen in den beiden Großregionen betrachtet (exemplarisch: Pollack und Pickel 2000) und dabei drittens oft als Gradmesser für den Stand der “inneren Einheit” Deutschlands verstanden (siehe zuletzt Woyke (2021); weitere Beispiele nennt Mannewitz (2016, S. 232–233)).

Letztere Interpretation erscheint aus mehreren Gründen überzogen. Zum einen sind nicht alle Variationen im Wahlverhalten auf Unterschiede in der Politischen Kultur zurückzuführen. Zum anderen sind — gerade in einem föderalen System — nicht alle politisch-kulturellen Unterschiede als problematisch zu betrachten (so bereits Veen 1997). Empirisch bestehen außerdem von jeher beträchtliche Differenzen im Wahlverhalten innerhalb beider Großregionen, die sich am auffälligsten in der Sonderrolle Bayerns bzw. der CSU innerhalb der alten Länder zeigen (Pappi und Shikano 2003).

Trotzdem stellt sich selbstverständlich auch anlässlich der neunten gesamtdeutschen Bundestagswahl im mittlerweile vierten Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung die Frage, ob sich weiterhin regional spezifische Muster des Wahlverhaltens erkennen lassen, wo deren Ursachen liegen, und welche Parteien davon profitieren können.

Dieser Artikel gehört zu einer Serie von Beiträgen über die politischen Ost-West-Unterschiede in Deutschland

Bereits zum Zeitpunkt der dritten gesamtdeutschen Bundestagswahl (1998) hatte sich diesbezüglich in der Forschung eine stark stilisierte Vorstellung vom spezifisch ostdeutschen Wahlverhalten herausgebildet (siehe z.B. Arzheimer und Falter 1998), die bis heute die Diskussion prägt: verglichen mit ihren westdeutschen Landsleuten neigten Ostdeutsche häufiger zur Nicht- und Wechselwahl, orientieren sich stärker an Themen und Kandidaten und gaben den “Bonner Parteien” (und hier vor allem den Grünen) seltener ihre Stimme. Dafür erzielten die PDS/Linke und gelegentlich auch die Parteien am rechten Rand deutlich bessere Ergebnisse als im Westen.

Diese Differenzen im Verhalten wurden auf ebenso stark stilisierte Unterschiede bei den politischen Einstellungen zurückgeführt: eine geringere Verbreitung von Parteibindungen, ein höheres Maß an politischer Unzufriedenheit, eine stärkere Nachfrage nach Sozialleistungen und staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft sowie ein höheres Maß an Nativismus. Als Ursachen für diese Einstellungsunterschiede wurden in der Literatur vor allem strukturelle Gründe angeführt. Neben dem vielfältigen Vermächtnis der DDR und den sozialen, ökonomischen und kulturellen Verwerfungen des Vereinigungsprozesses wurden vor allem die organisatorische Schwäche von Parteien, Kirchen und Gewerkschaften genannt. In der Summe wurde das Wahlverhalten in Ostdeutschland zu dieser Zeit oft als erklärungsbedürftige Abweichung von “westdeutschen Standards” (Weins 1999, S. 48–49) betrachtet, die sich im Lauf der Zeit voraussichtlich abschwächen würde.

Schon bald nahm die Forschung aber alternative oder zumindest komplementäre Mechanismen in den Blick. Durch Dealignment-Prozesse im Westen (Dassonneville et al. 2012; Arzheimer 2006, 2017; Dalton 2014), den langsamen Niedergang von Kirchen und Gewerkschaften auch in dieser Region sowie nicht zuletzt durch den Generationswechsel, so die Überlegungen, könnte es zu einer umgekehrten Form der Konvergenz kommen (Wagner 2022), bei der der Osten zum Vorbild für westdeutsches Wahlverhalten avanciert. Empirisch hat sich jedoch seit der Jahrtausendwende in dieser Hinsicht kein klares Bild ergeben. Zwar hat sich einerseits das westdeutsche Wahlverhalten (weiter) flexibilisiert. Zugleich bestanden und bestehen aber die bekannten Unterschiede in der Wahlbeteiligung und vor allem in der Parteienwahl fort (Abedi 2017).

Inzwischen hat sich allerdings der Schwerpunkt der politischen und wissenschaftlichen Diskussion von der Linken hin zur AfD verlagert, die seit 2013 in den ehemals neuen Ländern überdurchschnittlich erfolgreich war und ist (Weisskircher 2020; Pesthy et al. 2020; Hansen und Olsen 2022; Arzheimer 2023; Betz und Habersack 2019). Die Linke hingegen kämpft seit langem mit inneren Konflikten und hat zusehends an Attraktivität verloren (Träger 2020). Spätestens seit der Bundestagswahl 2017 stellte sich deshalb die (für diese Wahl noch zu verneinende) Frage, ob die AfD die Linke als ostdeutsche Regionalvertretung ablösen kann.

Die Beantwortung dieser Frage ist nicht trivial, da es sich bei AfD und Linker definitiv nicht um Regionalparteien (Brancati 2007) handelt, die nur in einem bestimmten Gebiet (hier: Ostdeutschland) aktiv sind und sich mit Themen beschäftigen, die nur dieses Gebiet betreffen. Es ist jedoch möglich, Kriterien zu benennen, aus deren Erfüllung sich ein besonderer Regionalvertretungsanspruch ableiten ließe: (1) eine überproportional starke Stellung, die sich (2) partiell durch Einstellungen erklären lässt, die in der Region besonders verbreitet sind sowie (3) ein darüber hinausgehender Regionaleffekt, der auch dann erhalten bleibt, wenn für regionale Unterschiede in den Einstellungen und in der Zusammensetzung der Bevölkerung kontrolliert wird (Arzheimer 2021, S. 62).

Vor diesem Hintergrund analysiert der vorliegende Beitrag zunächst ähnlich wie seine Vorgänger das Wahlergebnis von 2021 in Ost-West-Perspektive, um sich dann der Frage nach Unterschieden im Wahlverhalten zuzuwenden. Im Zentrum steht dabei wie schon bei der Bundestagwahl 2017 die Frage, ob sich die überproportionalen Erfolge von Linkspartei und AfD in den neuen Ländern durch Einstellungsunterschiede erklären lassen und ob eine oder beide Parteien von einem darüber hinausgehenden “Ost-Bonus” profitieren können. Während die Bundestagswahl 2017 noch im Schatten der sogenannten Flüchtlingskrise stand, wurde die Wahl 2021 von der Pandemie und den gesellschaftlichen Konflikten um ihre Bekämpfung überlagert. Diese wurden oft in Zusammenhang mit einer größeren Kontroverse um “kulturelle” Themen gestellt, die auch eine Ost-West-Dimension hat. Um den besonderen Umständen der Bundestagswahl 2021 Rechnung zu tragen, wurden deshalb neben den bereits früher berücksichtigten Grundüberzeugungen einige weitere Einstellungen mit in die Analyse einbezogen. Im Ergebnis zeigt sich, dass mittlerweile beide Parteien über einen Ost-Bonus verfügen. Bei aller gebotenen Vorsicht deutet dies darauf hin, dass sich die Stellung der AfD in den neuen Ländern verfestigt hat und diese nun ebenfalls als Regionalvertretung gelten kann.

Das Ergebnis der Bundestagswahl 2021

Das Wahlergebnis in Ost-West-Perspektive

Für die Analyse von Ost-West-Unterschieden im Wahlverhalten hat sich eine Maßzahl etabliert, bei der es sich letztlich um eine Variante des bekannten Pedersen-Index (Pedersen 1983) handelt. Während dieser zum Vergleich von Wahlergebnissen über die Zeit dient, vergleicht der “Index regionaler Unterschiede” (Arzheimer und Falter 2005) das Wahlergebnis in den alten Ländern einschließlich West-Berlins mit dem Resultat in den neuen Ländern einschließlich des Berliner Ostens. Um dabei auch Abweichungen in der Wahlbeteiligung erfassen zu können, wird auf die Zahl der Wahlberechtigten prozentuiert. Anschließend werden für alle im Bundestag vertretenen Parteien die absoluten Ost-West-Differenzen aufsummiert und das Ergebnis durch zwei geteilt. Die Stimmen für alle “sonstigen” Parteien werden dabei zu einer einzigen Pseudo-Partei zusammengefasst. Auch die Gruppe der Nichtwählerinnen und Nichtwähler wird wie eine Partei behandelt.

Index regionaler Unterschiede im Wahlverhalten, 1990-2021

Abbildung 1: Ost-West-Unterschiede im Wahlverhalten 1990-2021

Das theoretische Maximum des Index liegt bei 100. Empirisch wurden in der Vergangenheit Werte zwischen 14.2 (Bundestagswahl 1990) und 21.6 (Bundestagswahl 1998) erzielt. Bei der Bundestagwahl 2021 erreicht der Index einen Wert von 17.4 Punkten und liegt damit wie bei der Bundestagwahl 2013 wieder etwas unterhalb des Medians von 19.6, der in Abbildung 1 durch die gepunktete Linie markiert ist. Gemessen an den sehr hohen Werten, die Mitte und Ende der 1990er Jahre zu beobachten waren, haben sich die aggregierten Ost-West-Unterschiede also etwas abgeschwächt. Absolut betrachtet sind diese Unterschiede aber auch bei der Bundestagswahl 2021 beträchtlich.

Interessant ist neben dieser Gesamtbetrachtung auch, durch welche Differenzen im Wahlverhalten die jeweiligen Index-Werte zustande kamen. Zwischen 1994 und 2013 waren hier an erster Stelle die Unterschiede in der Unterstützung von PDS bzw. Linkspartei zu nennen, die sich in dieser Zeit stets im zweistelligen Prozentpunktebereich bewegten. Hinzu kamen die im Osten meist deutlich niedrigere Wahlbeteiligung und das bedeutend schwächere Abschneiden der Union, vor allem bei den Wahlen von 1998 bis 2005.

Bereits bei der Bundestagwahl 2017 zeichneten sich hier jedoch zwei bemerkenswerte Veränderungen ab: Die AfD erzielte damals vor allem in Ostdeutschland enorme Zugewinne. Damit überflügelte sie auch dort die Linke, die in den neuen Ländern deutlich an Rückhalt verloren hatte, während sie im Westen wieder etwas Boden gutmachen konnte.

Dieses neue Muster hat sich 2021 noch verstärkt: die AfD hat im Osten nur minimal, im Westen aber erkennbar an Zustimmung verloren. Wie bei der vorangegangenen Wahl ergibt sich daraus die über alle Gruppen von Wählenden größte Ost-West-Differenz von nunmehr 8.9 Punkten. Damit ist die AfD für rund ein Viertel des Gesamtunterschiedes zwischen beiden Regionen verantwortlich. Zugleich verliert die Linke in den neuen Ländern fast die Hälfte ihrer Unterstützung und muss damit ihr dort bisher schlechtestes Ergebnis hinnehmen. Trotz der deutlichen Verluste auch in den alten Ländern sinkt damit die Differenz zwischen beiden Ergebnissen auf nur noch 4.8 Punkte — das ist der niedrigste Wert, der hier jemals zu verzeichnen war.

Wie die Linkspartei muss auch die Union im Osten noch etwas stärkere Verluste hinnehmen als im Westen, woraus eine Differenz von 7.3 Punkten resultiert. Dies ist der höchste Wert seit 2005. Fast spiegelbildlich ist hingegen die Entwicklung bei den Grünen. Diese erzielen 2021 in den neuen Ländern ihr bislang bestes Ergebnis, zugleich waren ihre Gewinne im Westen aber so groß, dass sich für die Partei die bisher größte Ost-West-Lücke (5.7 Prozentpunkte) in ihren Wahlergebnissen öffnet.

Gemessen an diesen Unterschieden sind die Differenzen im Abschneiden der SPD, der FDP, der (in der Summe recht starken) sonstigen Parteien und in der Wahlbeteiligung vergleichsweise gering. Im Falle der SPD verbergen sich hinter der Differenz von lediglich 2.3 Punkten aber ein respektabler (3.2 Punkte) Anstieg im Westen und enorme Zugewinne von 7.6 Punkten im Osten.

Pedersen-Index getrennt nach Ost- und Westdeutschland, 1990-2021

Abbildung 2: Pedersen-Index getrennt nach Großregionen, 1994-2021

Diese Betrachtung der Ost-West-Unterschiede deutet bereits auf eine wiederum beträchtliche Aggregatvolatilität im Wahlverhalten hin. Zu deren Bestimmung wurde für beide Regionen getrennt der eigentliche Pedersen-Index berechnet. Dieser entspricht der untereren Schranke für individuelles Wechselwahlverhalten.1

Abbildung 2 bestätigt hier das schon von den letzten Bundestagswahlen bekannte Bild. Im Westen bewegt sich die Aggregatvolatilität seit der Bundestagwahl 2009 zum vierten Mal in Folge deutlich über dem Niveau, das während der Phasen der Umstrukturierung des Parteiensystems zu Beginn der 1970er und dann während der 1980er Jahre erreicht wurde. Verantwortlich dafür sind in erster Linie die Verluste von Union und Linkspartei und die Zugewinne von Grünen und SPD. Nur einmal, nämlich zwischen den Bundestagwahlen von 1949 und 1953, kam es in den alten Ländern mit knapp 16 Punkten zu einer noch größeren Verschiebung.

Zugleich war in den neuen Ländern bei der Bundestagswahl 2021 aufgrund ähnlicher Muster mit 14.6 Punkten ein Wert zu verzeichnen, der nur geringfügig unter der Vergleichsgröße für 2017 (15.3 Punkte) liegt und damit die bereits sehr hohen Werte aus den 1990er Jahren erneut deutlich übertrifft. Von einer Annäherung kann daher insofern die Rede sein, als sich die Aggregatvolatilität in beiden Großregionen auf historisch hohen Niveaus bewegt. Mit Ausnahme der Bundestagswahl 2009 war der Osten dem Westen dabei jedoch stets voraus.

Das Abschneiden von AfD und Linkspartei auf subnationaler Ebene

Zum zweiten Mal nach 2017 hat der Bundeswahlleiter die Ergebnisse aus den knapp 95000 Wahlbezirken in maschinenlesbarer Form zur allgemeinen Verfügung gestellt und damit neue Möglichkeiten für sehr feingliedrige Analysen eröffnet.2 Dabei sind jedoch einige Einschränkungen zu beachten. Anders als die Wahlkreise dienen die Wahlbezirke nicht der territorialen Repräsentation, sondern lediglich der Organisation des Wahlaktes auf lokaler Ebene. Sie werden deshalb innerhalb der Vorgaben der Bundeswahlordnung von den kommunalen Wahlbehörden entsprechend der Bedürfnisse vor Ort eingerichtet. Dies hat u.a. zur Folge, dass keine bundesweite Systematik zu ihrer Benennung existiert und im Falle von Urnenwahlbezirken die Adresse des zugehörigen Wahllokals den übergeordneten Stellen nicht bekannt ist.3 Die Ergebnisse aus den Wahlbezirken können deshalb einen Eindruck von der Variabilität des Wahlverhaltens innerhalb der Wahlkreise vermitteln, lassen aber nur bedingt Rückschlüsse darauf zu, wo genau diese Variabilität auftritt.

Ergebnisse aus Briefwahlbezirken sind zudem von einem weiteren Problem betroffen: welche und wie viele Bürgerinnen und Bürger hier wahlberechtigt sind, ist nicht vorab bekannt. Vielmehr wird die Wahlberechtigung erst am Wahltag selbst durch die Prüfung des beigelegten Wahlscheins festgestellt.4 Deshalb ist es hier nicht möglich, wie sonst üblich auf die Zahl der Wahlberechtigten zu prozentuieren und dadurch die tatsächliche Mobilisierungsleistung der Parteien sichtbar zu machen. Zugleich wäre es problematisch, die Briefwahlbezirke aus den Analysen auszuschließen, da 2021 fast die Hälfte der gültigen Zweitstimmen per Briefwahl abgegeben wurden. Die folgenden Analysen beziehen sich deshalb auf die Anteile von AfD und Linkspartei an den gültigen Zweitstimmen. Um extreme Werte aufgrund sehr kleiner absoluter Zahlen zu reduzieren, wurden vorab 3031 Stimmbezirke ausgeschlossen, in denen weniger als 100 gültige Zweitstimmen abgegeben wurden. Dies sind 3.2 Prozent der Wahlbezirke, für die Ergebnisse ausgewiesen wurden, bzw. 0.5 Prozent der gültigen Zweitstimmen.

Abbildung 3: Anteile von AfD und Linke an den gültigen Zweitstimmen in 91217 Wahlbezirken nach Region und Bundesländern

Abbildung 3 zeigt die Verteilung der Stimmenanteile als Boxplots, getrennt für beide Parteien in den 16 Bundesländern der beiden Großregionen. Die durchgezogene Linie innerhalb der jeweiligen Box entspricht dabei dem Median, die Box selbst markiert die beiden mittleren Quartile, bei den Punkten handelt es sich um Ausreißer. Dabei sind einige interessante Muster zu erkennen, die sich in ähnlicher Form auch 2017 gezeigt haben.

Zunächst ist festzuhalten, dass für beide Parteien das jeweilige Median-Ergebnis in den fünf ostdeutschen Flächenländern deutlich über den entsprechenden Werten für den Westen liegt. Eine Sonderstellung nimmt das Land Berlin ein, in dem die Linkspartei deutlich besser abschneidet als in den fünf neuen Ländern, während die AfD dort ebenso deutlich schlechtere Ergebnisse erzielt. In Berlin und (weniger klar) auch in Hamburg ist die Linkspartei dabei stärker als die AfD. In den übrigen Ländern liegt die AfD vor der Linken. In allen und insbesondere auch in den ostdeutschen Flächenländern ist dieser Abstand recht ausgeprägt: das untere Quartil der AfD-Unterstützung liegt hier jeweils über dem oberen Quartil der Unterstützung für die Linke. Mit anderen Worten: die AfD erzielt in den Wahlbezirken, in denen sie relativ betrachtet am schlechtesten abschneidet, Ergebnisse, die sich in etwa auf dem Niveau der größten Erfolge für die Linke bewegen.

Zweitens lässt sich anhand der jeweiligen Mediane auch gut die Streuung der Ergebnisse innerhalb der beiden Großregionen beurteilen. Bemerkenswert sind hier zunächst die enorm guten Resultate der AfD in den Ländern Thüringen und Sachsen: Die AfD erreicht hier in jeweils der Hälfte der Wahlbezirke noch bessere Ergebnisse als in 75 Prozent der Wahlbezirke von Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt. Ein ähnliches Gefälle ist (wenngleich auf deutlich niedrigerem Niveau) auch in den alten Ländern zu verzeichnen. Hier ist die AfD in Bremen, Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfahlen und Schleswig-Holstein erkennbar schwächer als in den südlicheren Ländern. Die Linke hingegen ist jenseits von Berlin im Osten vor allem in Mecklenburg-Vorpommern und in Thüringen vergleichsweise gut aufgestellt. Im Westen erzielt sie in den Stadtstaaten und dem Saarland im Mittel deutlich bessere Ergebnisse als in den Wahlbezirken der übrigen Länder.

Drittens und letztens zeigt die Höhe der Boxen, die dem Interquartilsabstand entspricht, dass — von den Stadtstaaten Berlin und Hamburg einmal abgesehen — die Ergebnisse der AfD stärker streuen als die der Linken. Bei aller gebotenen Vorsicht deutet dieses bereits von der Bundestagswahl 2017 bekannte Ergebnis auf eine Form der räumlichen Polarisierung innerhalb der Flächenländer hin: überall gibt es Nachbarschaften, Stadtviertel oder sogar Regionen, wo die AfD weit überdurchschnittliche Erfolge erzielt, während sie an anderen Orten im selben Bundesland oder sogar in derselben Gemeinde kaum reüssieren kann. Exemplarisch lässt sich dies an der sächsischen Landeshauptstadt Dresden zeigen: In den fünf Prozent der Wahlbezirke, in denen die Partei am schlechtesten abschnitt, erreichte sie Werte zwischen 1.2 und 5.1 Prozent der gültigen Stimmen. In ihren Hochburgen in Stadt und Umland konnte sie hingegen zwischen 35.1 und 43.7 Prozent der Zweitstimmen gewinnen.5

Lokale Hochburgen (Wahlbezirke) von AfD und Linke bei der Bundestagswahl 2021

Abbildung 4: Lokale Hochburgen (Wahlbezirke) von AfD und Linke bei der Bundestagswahl 2021

Aufschlussreich ist abschließend auch der Blick auf die absoluten Hochburgen der Parteien. Die 150 Wahlbezirke mit den höchsten Stimmenanteilen für die AfD — zwischen 45.2 und 61.9 Prozent — liegen alle in den östlichen Bundesländern und dort vornehmlich in Brandenburg (12), Thüringen (33) und Sachsen (101), wo sie sich auf 110 zumeist kleine bis sehr kleine Gemeinden verteilen. Die absoluten Hochburgen der Linkspartei, in denen sie zwischen 24.8 und 45.7 Prozent der gültigen Stimmen erhalten hat, liegen vor allem in Berlin (81), Sachsen (39) und Hamburg (12) und verteilen sich auf insgesamt nur 16 Gemeinden. Mit Ausnahme von Ludwigsfelde (bei Potsdam) und der Gemeinde Südliches Anhalt handelt es sich dabei ausschließlich um Groß- bzw. Hochschulstädte. Überspitzt könnte man sagen, dass die AfD mit der Bundestagswahl 2021 noch stärker als zuvor zur Partei der mitteldeutschen Dörfer, Klein- und Vorstädte geworden ist. Die Linke hingegen kann sich in Ostdeutschland momentan noch auf ein eher städtisches Milieu stützen, hat aber weiter an Bedeutung verloren. Von der Westausdehnung sind ihr einige Brückenköpfe geblieben, in der Fläche spielt sie keine Rolle (mehr).

Die Wahlentscheidung zugunsten von AfD oder Linkspartei auf der Mikro-Ebene

Analyserahmen und Hypothesen

Wie oben dargelegt werden die Ost-West-Unterschiede im Wahlverhalten in der Literatur primär durch Einstellungsunterschiede erklärt, die ihrerseits auf Unterschiede in den Sozialisations- und Lebensbedingungen vor und nach der Wiedervereinigung zurückgeführt werden (klassisch: Westle 1994). Im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses stand dabei über Jahrzehnte der Zusammenhang zwischen dem in den neuen Ländern weiter verbreiteten Wunsch nach Umverteilung und staatlichen Eingriffen in die Wirtschaft und der Wahl der Linken bzw. der PDS.

Seit ihren ersten Landtagswahlerfolgen im Osten ab 2014 und noch einmal verstärkt seit der Bundestagswahl 2017 hat darüber hinaus die Frage an Bedeutung gewonnen, wie sich das überproportional gute Abschneiden der AfD in den neuen Ländern erklären lässt. Dabei zeigte sich, dass die größere Verbreitung nativistischer und populistischer Einstellungen die Ost-West-Unterschiede zu einem großen Teil oder sogar ganz erklären konnte (Arzheimer 2021; Pesthy et al. 2020; Hansen und Olsen 2018), während die Linkspartei nach wie vor von einem genuinen Ost-Bonus profitierte.

Seit 2017 hat sich die politische Situation für beide Parteien jedoch noch einmal verändert. In der Linken erreichte der Konflikt um die Position der Partei zu Immigration und anderen “kulturellen” Themen wie z.B. dem Bemühen um eine diskriminierungsarme Sprache oder die Unterstützung für die Schwarzen in den USA einen neue Höhepunkt, als Sahra Wagenknecht weniger als ein halbes Jahr vor der Wahl ein Buch veröffentlichte, in dem sie die “selbstgerechten” “Lifestyle-Linken” innerhalb und außerhalb der eigenen Partei attackierte. Zugleich rückte die Linke mit ihrem Bundestagwahlprogramm etwas stärker in Richtung Mitte, während die SPD versuchte, sich von der Agenda-Politik zu lösen und das Thema der sozialen Gerechtigkeit für sich zurückzugewinnen. Die für die elektorale Unterstützung der Linkspartei wichtige Kluft zwischen beiden Parteien hat sich damit erkennbar reduziert (Olsen und Hansen 2022).

In der AfD wiederum geriet der (westdeutsche) Co-Parteichef Jörg Meuthen, einer der letzten prominenten Vertreter der wirtschaftsliberalen und vermeintlich gemäßigten Strömung innerhalb der Partei, immer mehr in die Defensive. Zwar wurde das im Osten besonders starke “Flügel”-Bündnis formal aufgelöst und einige seiner Vertreter aus der Partei ausgeschlossen. Der Einfluss des Thüringer Parteichefs Björn Höcke, einer der prominentesten Anführer des Flügels, nahm jedoch während der 19. Legislaturperiode weiter zu. Alle Versuche Meuthens, Auftreten und Ideologie der Partei umzugestalten, um eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz nach Möglichkeit zu vermeiden, blieben daher vergebens. So war es wenig überraschend, dass der Parteitag im April 2021 Meuthens (ökonomisch rechte) Vorschläge zu einer Rentenreform aus dem Programm strich und die Basis einen Monat später gegen Meuthens Wünsche Tino Chrupalla und Alice Weidel zu Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl bestimmte. Auch in der Frage des Umgangs mit Corona-Leugnern und sogenannten Querdenkern konnte Meuthen sich nicht durchsetzen: Gegen den erklärten Wunsch des Co-Vorsitzenden versuchte die Partei sich seit dem Sommer 2020 an die Spitze dieser (wiederum in Ostdeutschland besonders starken) Bewegung zu setzen.

In der Summe lässt sich also erstens festhalten, dass es innerhalb beider Parteien einen Konflikt über die Position auf der jeweils nicht-dominanten Policydimension gibt, auch wenn dieser für die Parteimitglieder vermutlich wichtiger ist als für die Wählerinnen und Wähler. Zweitens stehen beide Parteien zumindest einigen Aspekten der bundesdeutschen Demokratie sehr kritisch gegenüber und werden als populistisch eingestuft (z.B. Olsen 2018). Drittens ist die Corona-Pandemie für die AfD zu einem wichtigen Thema geworden und hat im weiteren rechten Lager zumindest kurzfristig die Idee einer “Querfront” gegen das Establishment wiederbelebt.

Vor diesem Hintergrund bietet es sich an, das in der Vergangenheit verwendete sparsame Modell zur Erklärung der Wahl von AfD und Linkspartei um einige wenige Indikatoren aus dem aktuellen Frageprogramm der GLES zu erweitern. Von besonderem Interesse sind hier an erster Stelle das im Zusammenhang mit der Pandemie aber auch der angeblichen “cancel culture” thematisierte Gefühl, die eigene Meinung nicht frei äußern zu dürfen. Ebenfalls im Zusammenhang mit Pandemie wurde von rechten Akteuren in Deutschland und weltweit die Integrität und Relevanz der Wissenschaft in Zweifel gezogen (Brubaker 2021). Dieses Phänomen berücksichtigt die GLES mit der Frage nach dem Vertrauen in die Wissenschaft. Die GLES enthält außerdem eine Frage zu der für die “dünne Ideologie” (Stanley 2008) des Populismus konstitutiven Wahrnehmung einer Kluft zwischen Elite und homogenem Volk, die aus der von Akkerman et al. (2014) entwickelten Batterie stammt. Auch die ebenfalls in der GLES erfasste Vorstellung, dass die Gesellschaft sich zum negativen entwickelt und zusehends ungerechter wird, ist Bestandteil eines populistischen Denkens.

Der Kern des Modells bleibt aber erhalten: Analog zur Situation bei der Bundestagswahl 2017 ist weiterhin davon auszugehen, dass die Position zum sozio-ökonomischen Konflikt, die Haltung zur Zuwanderungsfrage und die Bewertung der Demokratie, so wie sie in Deutschland implementiert ist, gemeinsam einen starken Einfluss auf die Wahl der beiden Flügelparteien haben. Daraus ergeben sich die folgenden Hypothesen:

H1

Eine ablehnende Haltung zur Migration begünstigt die Wahl der AfD

H2

Eine ökonomisch linke Position (höhere Steuern und Sozialausgaben) begünstigt die Wahl der Linkspartei

H3

Eine skeptische Einstellung gegenüber der bundesdeutschen Demokratie begünstigt die Wahl von AfD und Linkspartei.

Letzteres sollte auch für die Wahrnehmung eines fundamentalen Unterschiedes zwischen Volk und Eliten und den Eindruck einer zunehmenden Ungerechtigkeit in der Gesellschaft gelten, auch wenn hinter diesen Einstellungen sehr unterschiedliche Überzeugungen und Perzeptionen stehen dürften.

H4

Die Wahrnehmung einer Kluft zwischen homogenem Volk und Eliten begünstigt die Wahl von AfD und Linkspartei.

H5

Die Wahrnehmung einer wachsenden gesellschaftlichen Ungerechtigkeit begünstigt die Wahl von AfD und Linkspartei.

Klar erscheint auch, dass die AfD von einer wissenschaftsskeptischen Einstellung und dem Eindruck fehlender Meinungsfreiheit profitieren sollte:

H6

Misstrauen gegenüber der Wissenschaft begünstigt die Wahl der AfD.

H7

Das Gefühl fehlender Meinungsfreiheit begünstigt die Wahl der AfD.

Ob und wie sich Misstrauen gegenüber der Wissenschaft und der Eindruck fehlender Meinungsfreiheit auch auf die Wahl der Linkspartei auswirkt, ist weniger offensichtlich. Unklar ist auch, ob der negative Zusammenhang zwischen Zuwanderungsskepsis und der Wahl der Linken fortbesteht, der 2017 nachweisbar war (Arzheimer 2021, S. 75–76), und ob es der AfD inzwischen gelungen ist, einen Ost-Bonus aufzubauen, der über das hinausgeht, was sich aus den Einstellungsunterschieden ergibt. Letzteres wäre, wie in der Einleitung dargelegt, ein wichtiger Beleg dafür, dass nun auch die AfD als ostdeutsche Regionalvertretung gelten kann.

Daten und Modell

Die in diesem Abschnitt untersuchten Daten stammen aus der kombinierten Vorwahl- / Nachwahlbefragung der GLES (GLES 2022) und sollten wegen dieser zeitlichen Nähe zur Wahlentscheidung besonders valide sein. Geplantes und berichtetes Wahlverhalten werden zusammengefasst, um für beide Landesteile große Fallzahlen zu erreichen. Der Stimmenanteil der Linkspartei wird dabei minimal überschätzt (0.8 Prozentpunkte), der der AfD erkennbar unterschätzt (2.7 Prozentpunkte).6

In allen Modellen wird für das Geschlecht, die formale Bildung (einfach, mittel oder hoch)7 und das Alter der Befragten (18-34 Jahre; 35-49 Jahre, 50-65 Jahre; älter als 65 Jahre) kontrolliert. Die sieben Einstellungsvariablen wurden wie folgt operationalisiert:

q4

“Wie zufrieden oder unzufrieden sind Sie – alles in allem – mit der Demokratie, so wie sie in Deutschland besteht? Sind Sie (1) sehr zufrieden, (2) zufrieden, (3) teils/teils, (4) unzufrieden oder (5) sehr unzufrieden?”

q40

“Und wie ist Ihre Position zum Thema Steuern und sozialstaatliche Leistungen? Bitte benutzen Sie diese Skala: (1) weniger Steuern und Abgaben, auch wenn das weniger sozialstaatliche Leistungen bedeutet … (11) mehr sozialstaatliche Leistungen, auch wenn das mehr Steuern und Abgaben bedeutet”

q43

“Und wie ist Ihre Position zum Thema Zuzugsmöglichkeiten für Ausländer? Bitte benutzen Sie diese Skala: (1) Zuzugsmöglichkeiten für Ausländer sollten erleichtert werden … (11) Zuzugsmöglichkeiten für Ausländer sollten eingeschränkt werden”

q46d

“Leute wie ich dürfen ihre Meinung in der Öffentlichkeit nicht mehr frei äußern (1) stimme überhaupt nicht zu (2) stimme eher nicht zu (3) teils/teils (4) stimme eher zu (5) stimme voll und ganz zu”

q51d

“Die politischen Unterschiede zwischen Eliten und dem Volk sind größer als die Unterschiede innerhalb des Volkes (1) stimme überhaupt nicht zu (2) stimme eher nicht zu (3) teils/teils (4) stimme eher zu (5) stimme voll und ganz zu”

q79q

“Wie sehr vertrauen Sie der Wissenschaft (1) vertraue überhaupt nicht … (11) vertraue voll und ganz”

q101

“Und wie hat sich die Gesellschaft in Deutschland in den letzten Jahren entwickelt? (1) wesentlich gerechter geworden (2) etwas gerechter geworden (3) gleich geblieben (4) etwas ungerechter geworden (5) wesentlich ungerechter geworden”

Ost-West-Unterschiede, die von der sozialstrukturellen Zusammensetzung der beiden Landesteile unabhängig sind, werden mit Hilfe von linearen Mehr-Ebenen-Modellen geschätzt, die der Tatsache Rechnung tragen, dass sich Befragte innerhalb desselben Wahlkreises überzufällig ähnlich sind und es sich bei der Region um ein Merkmal des Befragungsortes handelt. Dabei werden die in der GLES repräsentierten Wahlkreise als Kontexteinheiten betrachtet und die Wahlkreise “Berlin-Mitte” und “Berlin-Friedrichshain-Kreuzberg — Prenzlauer Berg Ost” der Region “Ost” zugeordnet. Da Ostdeutschland in der GLES überrepräsentiert wird, um Ost-West-Unterschiede präziser untersuchen zu können, stehen damit für die Analyse Interviews aus insgesamt 44 ostdeutschen und 120 westdeutschen Wahlkreisen zur Verfügung.

Für die Analyse der Wahlentscheidungen wurden diese auf drei Kategorien — Wahl der Linkspartei, Wahl der AfD sowie Wahl einer anderen Partei bzw. Nichtwahl8 — reduziert und anschließend mit Hilfe multinomial-logistischer Mehr-Ebenen-Modelle untersucht. Die dritte Ausprägung bildet in den logistischen Modellen die Referenzkategorie, d.h. die entsprechenden Koeffizienten zeigen, ob die zugehörige Variable die Wahl von AfD bzw. Linkspartei gegenüber anderen Wahlentscheidungen wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher macht. Auch hier werden die 164 in der GLES erfassten Wahlkreise als relevante Kontexteinheiten betrachtet.

Einstellungsunterschiede in Ost-West-Perspektive

Steuern/Soziales

Zuwanderung

Unzufrieden Demokratie

b

se

b

se

b

se

Fixed

Bildung:

mittel

0,045

(0,112)

-0,619***

(0,134)

-0,169***

(0,048)

hoch

0,676***

(0,115)

-1,927***

(0,127)

-0,454***

(0,042)

Gender:

männlich

-0,192*

(0,076)

0,142

(0,086)

-0,010

(0,025)

Alter:

35-49

-0,286*

(0,124)

0,717***

(0,151)

-0,148***

(0,042)

50-65

0,017

(0,118)

0,763***

(0,137)

-0,276***

(0,046)

65+

0,214

(0,124)

0,745***

(0,157)

-0,482***

(0,048)

Befragungsgebiet:

Ost

-0,163

(0,106)

0,712***

(0,136)

0,424***

(0,035)

Konstante

5,730***

(0,148)

6,579***

(0,185)

2,897***

(0,058)

Random

Var (Wahlkreis)

0,168***

(0,041)

0,230***

(0,046)

0,004

(0,004)

Var (Person)

4,958***

(0,106)

6,665***

(0,130)

0,802***

(0,019)

N1

6090

6090

6090

N2

164

164

164

Tabelle 1: Determinanten zentraler politischer Einstellungen zum Zeitpunkt der Bundestagswahl 2021 (Teil 1)

Tabelle 1 zeigt die Ergebnisse für die Unzufriedenheit mit der Implementation der Demokratie, die Einstellung zur Zuwanderungsfrage und die Einstellung zum Thema Steuern/Sozialleistungen. Bei Letzteren ist unter Kontrolle von Alter, Geschlecht und Bildung wie schon 2017 kein signifikanter Ost-West-Unterschied zu verzeichnen. Über beide Regionen hat sich die Durchschnittsposition um etwa 0.2 Punkte in Richtung “niedrigere Steuern und Sozialleistungen” verschoben. Auffallend ist, dass Hochgebildete, die tendenziell auch ein höheres Einkommen haben, den Sozialstaat sehr viel stärker (+0.68 Punkte) unterstützen als Befragte mit mittlerer und niedriger Bildung. Hinzu kommen der bekannte Gendereffekt sowie ein negativer Effekt für die zweitjüngste Altersgruppe. Die kontextuelle Variation ist hier wie auch bei allen anderen Items zu vernachlässigen.

Bei der Frage nach der Zuwanderung fallen zunächst die enorm starken Bildungseffekte ins Auge. Menschen mit hoher formaler Bildung positionieren sich im Mittel um fast zwei Skalenpunkte weiter in Richtung einer Lockerung des Zuwanderungsrechtes als Menschen mit einfacher Bildung; bei Personen mit mittlerer Bildung sind es im Mittel immerhin noch 0.6 Skalenpunkte. Ebenfalls sehr stark ausgeprägt ist bei dieser Frage aber der Regionaleffekt: In Ostdeutschland fällt die Position zur Zuwanderung ceteris paribus um 0.7 Punkte restriktiver aus. Bemerkenswert ist darüber hinaus der Alters- bzw. Generationeneffekt, der in ähnlicher Form auch aus anderen westeuropäischen Ländern bekannt ist: der Unterschied zwischen den jüngeren (<35 Jahre) und allen übrigen Befragten entspricht in seiner Größenordnung in etwa der Ost-West-Differenz. Die Stärke der Effekte ist in etwa mit den Befunden für 2017 vergleichbar, insgesamt wird Zuwanderung aber deutlich (ca. 0.3 Punkte) positiver bewertet als vier Jahre zuvor.

Anders als im Falle der beiden Policy-Items wurde die Unzufriedenheit mit der Demokratie auf einer Skala mit nur fünf Abstufungen gemessen. Gemessen daran treten auch hier beträchtliche Alters- und Bildungseffekte auf: Höhergebildete sind deutlich weniger unzufrieden, zugleich nimmt die Unzufriedenheit aber auch mit dem Lebensalter monoton ab. Ceteris paribus sind außerdem Personen, die in Ostdeutschland befragt wurden, deutlich (ca. 0.4 Punkte) unzufriedener. Gegenüber 2017 hat die Unzufriedenheit allgemein nur ganz leicht (um etwa 0.1 Punkte) zugenommen. Auch die Bildungs- und Regionaleffekte entsprechen in etwa denen von 2017. Der Gradient des Alterseffektes ist allerdings deutlich steiler geworden.9

 

Keine Meinungsfreiheit

Gesellschaft ungerechter

Elite vs. Volk

Vertrauen Wissenschaft

b

se

b

se

b

se

b

se

Fixed

Bildung:

mittel

-0,240***

(0,062)

-0,002

(0,035)

-0,046

(0,037)

0,516***

(0,117)

hoch

-0,804***

(0,061)

-0,103**

(0,036)

-0,426***

(0,037)

1,364***

(0,108)

Gender:

männlich

0,069

(0,041)

0,036

(0,027)

0,062*

(0,030)

0,140*

(0,063)

Alter:

35-49

0,107

(0,062)

0,132**

(0,045)

-0,081

(0,045)

-0,187

(0,117)

50-65

-0,076

(0,055)

0,169***

(0,042)

0,004

(0,046)

-0,495***

(0,109)

65+

-0,232***

(0,069)

-0,016

(0,050)

0,130*

(0,052)

0,121

(0,115)

Befragungsgebiet:

Ost

0,375***

(0,055)

0,067*

(0,028)

0,185***

(0,032)

-0,300***

(0,087)

Konstante

2,511***

(0,079)

3,414***

(0,056)

3,604***

(0,054)

7,829***

(0,144)

Random

Var (Wahlkreis)

0,036***

(0,010)

0,010**

(0,004)

0,009*

(0,003)

0,116***

(0,034)

Var (Person)

1,492***

(0,035)

0,716***

(0,014)

0,890***

(0,018)

4,376***

(0,127)

N1

6090

6090

6090

6090

N2

164

164

164

164

Tabelle 2: Determinanten zentraler politischer Einstellungen zum Zeitpunkt der Bundestagswahl 2021 (Teil 2)

Tabelle 2 listet die Ergebnisse für die übrigen vier Einstellungsvariablen auf. Die ersten drei wurden auf einer Fünfer-, das Vertrauen in die Wissenschaft auf einer Elferskala gemessen.

Bei dem Item zu angeblichen Einschränkungen der Meinungsfreiheit zeigen sich sehr starke Bildungseffekte vor allem bei den Hochgebildeten: Die Differenz zwischen dieser Gruppe und den Niedriggebildeten beträgt im Mittel -0.8 Skalenpunkte. Auch Personen mit mittlerer Bildung sowie ältere (>65 Jahre) Befragte fühlen sich in ihrer Meinungsfreiheit deutlich (-0.24 / -0.23 Punkte) weniger eingeschränkt. Zugleich ist der Regionaleffekt mit 0.38 Punkten sehr stark ausgeprägt.

Bei der Frage nach der Entwicklung von gesellschaftlicher Gerechtigkeit gibt es hingegen kaum Unterschiede zwischen den Gruppen. Die Ost-West-Differenz ist zwar statistisch signifikant von null verschieden, inhaltlich aber ohne Bedeutung. In beiden Regionen ist jeweils ein knappes Drittel der Befragten davon überzeugt, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse in etwa gleich geblieben seien, während etwas weniger als die Hälfte eine leichte Verschlechterung wahrnimmt. Für die übrigen

Befragten ist die Gesellschaft entweder wesentlich ungerechter (9-11 Prozent) oder etwas gerechter (11-13 Prozent) geworden. Zu diesem sehr schwachen Ost-West-Effekt kommen geringfügig stärkere Bildungs- und Alterseffekte. Insgesamt ist die Wahrnehmung der Entwicklung damit recht einheitlich eher (aber nicht extrem) negativ.

Wiederum etwas stärker ausgeprägt sind die Unterschiede zwischen den Befragten bei der Frage nach einer Dichotomie zwischen Eliten und Bevölkerung. Ceteris paribus gibt es hier im Osten deutlich höhere (0.19 Punkte) Zustimmung als im Westen. Hinzu kommt ein starker Bildungseffekt: Hochgebildete stimmen der Aussage im Mittel um fast einen halben Skalenpunkte weniger zu als Personen mit einfachen Bildungsabschlüssen.

Ein deutlicher Ost-West-Unterschied besteht schließlich auch beim Vertrauen in die Wissenschaft, das in den neuen Ländern erkennbar (-0.3 Punkte) niedriger ausgeprägt ist als bei Befragten in der alten Bundesrepublik. Diese Differenz ist allerdings wesentlich kleiner als die Bildungseffekte: Befragte mit mittlerer Bildung zeigen ein deutlich (0.52 Punkte), Befragte mit hoher Bildung ein sehr viel höheres (1.36 Punkte) Vertrauen als solche mit einfacher Bildung. Keine offensichtliche Erklärung gibt es für das substantiell (-0.5 Punkte) niedrigere Vertrauen der 50-65-Jährigen.

In der Summe lässt sich festhalten, dass auch 2021 deutliche Einstellungsunterschiede zwischen ost- und westdeutschen Befragten bestanden. Diese betreffen vor allem die Zuwanderung und die Demokratie wie sie in Deutschland besteht: beide werden (unter Kontrolle der sozio-demographischen Unterschiede) in den neuen Ländern sehr viel negativer bewertet als im Westen. Weniger stark ausgeprägte aber durchaus substantielle Ost-West-Unterschiede zeigen sich auch in der Einschätzung der eigenen Meinungsfreiheit, bezüglich der wahrgenommenen Unterschiede zwischen Elite und Volk und beim Vertrauen in die Wissenschaft. Im nächsten Abschnitt soll untersucht werden, ob und in welchem Umfang diese Differenzen dazu beitragen können, die Unterschiede in der Unterstützung von AfD und Linkspartei zu verstehen.

 

Wahlverhalten in Ost-West-Perspektive

 

Wahlentscheidung (1)

Wahlentscheidung (2)

b

se

b

se

Linke

Bildung:

mittel

-0,087

(0,206)

-0,054

(0,226)

hoch

-0,204

(0,223)

-0,407

(0,243)

Gender:

männlich

0,224

(0,132)

0,275

(0,141)

Alter:

35-49

-0,402*

(0,191)

-0,025

(0,209)

50-65

-0,634***

(0,188)

-0,251

(0,209)

65+

-0,925***

(0,248)

-0,460

(0,264)

Befragungsgebiet:

Ost

1,356***

(0,140)

1,297***

(0,145)

Unzufriedenheit mit der Demokratie

0,800***

(0,087)

Mehr Steuern und Leistungen

0,270***

(0,034)

Gegen Zuwanderung

-0,156***

(0,030)

Konstante

-2,724***

(0,281)

-5,948***

(0,520)

AfD

Bildung:

mittel

-0,522**

(0,174)

-0,264

(0,206)

hoch

-1,574***

(0,195)

-0,633**

(0,227)

Gender:

männlich

0,605***

(0,139)

0,791***

(0,167)

Alter:

35-49

0,123

(0,211)

0,125

(0,233)

50-65

-0,305

(0,202)

-0,317

(0,233)

65+

-1,062***

(0,250)

-0,721*

(0,289)

Befragungsgebiet:

Ost

1,327***

(0,141)

0,874***

(0,153)

Unzufriedenheit mit der Demokratie

1,209***

(0,104)

Mehr Steuern und Leistungen

-0,141***

(0,039)

Gegen Zuwanderung

0,395***

(0,049)

Konstante

-2,266***

(0,260)

-8,880***

(0,676)

Var (Wahlkreis) Linke

0,346**

(0,123)

0,310**

(0,107)

Var (Wahlkreis) AfD

0,281***

(0,085)

0,346**

(0,121)

Kovarianz Linke AfD

0,040

(0,064)

0,074

(0,089)

 

Tabelle 3: Determinanten der Entscheidung für AfD und Linkspartei bei der Bundestagswahl 2021 (Teil 1)

Der linke Teil von Tabelle 3 zeigt die Schätzungen für ein multinomiales Modell der Wahl von AfD und Linkspartei, das analog zu den Modellen im vorangegangenen Abschnitt nur eine Dummy-Variable für die Region sowie die sozio-demographischen Kontrollvariablen beinhaltet. Dabei enthält das obere Panel die Koeffizienten für den Kontrast zwischen der Wahl der Linkspartei und der Residualkategorie, das untere Panel analog dazu die Koeffizienten für den Kontrast zwischen AfD-Wahl und Residualkategorie. Auch wenn die Bedeutung der Koeffizienten multinomialer Logitmodelle oft schwer nachzuvollziehen ist, lassen sich wegen der einfachen Modellstruktur in einem ersten Interpretationsschritt die Hauptergebnisse der Analysen recht gut aus den Tabellen ablesen.

Verglichen mit der Referenzkategorie wird die Wahl der Linken mit zunehmendem Alter deutlich unwahrscheinlicher, während formale Bildung und Geschlecht keinen (auf der Ebene der Logits statistisch signifikanten) Unterschied machen. Auch für die AfD gibt es (wiederum verglichen mit der Referenzkategorie) einen starken Alterseffekt, der sich aber am Unterschied zwischen jüngeren Menschen einerseits und Personen im Rentenalter andererseits festmacht. Dieser auch aus anderen Studien bekannte Zusammenhang geht vermutlich auf die stärkere und häufigere Bindung älterer Wählerinnen und Wähler an die traditionellen Parteien zurück.

Anders als bei der Linkspartei zeigen sich für die AfD außerdem ein sehr starker Bildungseffekt und ein starker Gendereffekt: Im Vergleich zu Personen mit einfacher formaler Bildung reduzieren sich die Chancen (Odds) der AfD-Wahl für Hochgebildete auf ein gutes Fünftel (), während für Männer die Odds der AfD-Wahl fast doppelt so hoch sind wie für Frauen (). Beide Zusammenhänge sind ebenfalls aus der Literatur bekannt. Jenseits dieser Kontrollvariablen besteht für beide Parteien ein sehr ausgeprägter Ost-West-Zusammenhang: Für die Linkspartei sind die Odds im Osten knapp viermal (), für die AfD sogar knapp fünfmal () so hoch wie im Westen.

Zumindest ein Teil dieser Ost-West-Differenzen sollte auf die im vorangegangenen Abschnitt skizzierten Einstellungsunterschiede zurückgehen. In einem zweiten Analyseschritt wurden deshalb die beiden Policy-Präferenzen sowie die Unzufriedenheit mit der Demokratie in Deutschland in das Modell aufgenommen. Die Ergebnisse bestätigen die Hypothesen H1-H3.

Im rechten Teil von Tabelle 3 lässt sich ablesen, dass die Unzufriedenheit mit der Demokratie einen sehr starken Effekt auf die Odds der Linkspartei hat: mit jedem Skalenpunkt mehr Unzufriedenheit verdoppeln sich diese in etwa. Der positive Effekt, der von einer ökonomisch linken Position ausgeht ist schwächer, allerdings ist dabei zu bedenken, dass die zugrundeliegende Skala elf statt fünf Abstufungen aufweist. Noch etwas schwächer aber negativ (wie schon 2017) ist der Effekt des Zuwanderungs-Items. Dies bedeutet, dass eine positive Einstellung zur Zuwanderung die Wahl der Linkspartei deutlich wahrscheinlicher macht. Ob eine Neupositionierung im Sinne Wagenknechts der Linken neue Wählerschichten erschließen würde, lässt sich daraus nicht ablesen. Klar scheint aber, dass ein solcher Politikwechsel die aktuellen Wählerinnen und Wähler abschrecken würde.

Die analogen Koeffizienten für die Wahl der AfD finden sich unten rechts in der Tabelle. Hier ist zunächst festzuhalten, dass der Effekt, der von der Unzufriedenheit mit der Demokratie ausgeht, noch einmal stärker ist als im Falle der Linkspartei: für jeden Skalenpunkt, um den die Unzufriedenheit zunimmt, ist mit einer Verdreifachung der Odds zu rechnen. Ebenfalls sehr stark (auch hier ist die Skalierung zu beachten) ist der Effekt des Zuwanderungs-Items. Wiederum im Einklang mit der bisherigen Forschung ist Immigrationsskepsis (Rydgren 2008) auch bei der Bundestagwahl 2021 ein zentrales Motiv für die Wahl der AfD. Unerwartet ist hingegen der (schwächere) negative Effekt der ökonomischen Einstellungen: obwohl wirtschaftsliberale Elemente in der Partei erheblich an Bedeutung verloren haben, erhöhen auch ökonomisch rechte Einstellungen die Odds der AfD-Wahl.

Die Alterseffekte auf die Wahl der Linkspartei verlieren ihre Signifikanz, sobald die politischen Einstellungen berücksichtigt werden. Im Falle der AfD-Wahl schwächt sich der Effekt des fortgeschrittenen Alters ab, geht aber nicht ganz verloren. Die Bildungseffekte halbieren sich in etwa, was vor allem durch den engen Zusammenhang zwischen formaler Bildung und Haltung zur Immigration zu erklären ist. Bemerkenswert ist, dass der Gendereffekt unter Kontrolle der Einstellungen sogar noch etwas stärker wird. Inhaltlich bedeutet dies, dass für eine Frau bei ansonsten identischen Einstellungen und sozio-demographischen Merkmalen die Odds der AfD-Wahl als nur etwa halb so groß geschätzt werden wie für einen Mann.

Auch unter Berücksichtigung der Einstellungsvariablen reduziert sich der Regionaleffekt für die Wahl der Linkspartei kaum: selbst wenn man Einstellungen und sozio-demographische Merkmale statistisch kontrolliert, bleiben die Odds der Linken-Wahl im Osten mehr als dreimal so hoch wie im Westen. Als Erklärung hierfür kommen einerseits weitere Einstellungsunterschiede, andererseits aber auch die organisatorische Stärke sowie die lokalen und regionalen Kandidatinnen und Kandidaten der Linkspartei und die Dynamik des Parteienwettbewerbs vor Ort in Frage.

Für die AfD reduziert sich die Stärke des Regionaleffektes deutlich, nämlich um etwa ein Drittel. Dennoch bleibt ein starker Effekt bestehen, der in etwa einer Verdoppelung der Odds gegenüber dem Westen entspricht und analog zum Effekt für die Linkspartei erklärt werden kann. Gegenüber 2017 ist dies eine bemerkenswerte Veränderung. Damals hatte sich das überproportional gute Abschneiden der AfD in den neuen Ländern vollständig durch Unterschiede bei der Bewertung von Zuwanderung und Demokratie erklären lassen (Arzheimer 2021, S. 75). Bei aller gebotenen Vorsicht ist dies ein Hinweis darauf, dass sich die herausgehobene Position der AfD in den neuen Ländern verfestigt hat.

Wahlentscheidung (3)

b

se

Linke

Bildung:

mittel

-0,074

(0,221)

hoch

-0,387

(0,241)

Gender:

männlich

0,250

(0,141)

Alter:

35-49

-0,037

(0,215)

50-65

-0,367

(0,216)

65+

-0,593*

(0,272)

Unzufriedenheit mit der Demokratie

0,697***

(0,096)

Mehr Steuern und Leistungen

0,251***

(0,036)

Gegen Zuwanderung

-0,158***

(0,032)

Keine Meinungsfreiheit

-0,133

(0,077)

Gesellschaft ungerechter

0,258**

(0,091)

Elite vs Volk

0,296***

(0,073)

Vertrauen Wissenschaft

-0,049

(0,039)

Befragungsgebiet:

Ost

1,357***

(0,147)

Konstante

-6,787***

(0,685)

AfD

Bildung:

mittel

-0,244

(0,221)

hoch

-0,412

(0,244)

Gender:

männlich

0,785***

(0,175)

Alter:

35-49

0,087

(0,256)

50-65

-0,435

(0,256)

65+

-0,718*

(0,300)

Unzufriedenheit mit der Demokratie

0,873***

(0,106)

Mehr Steuern und Leistungen

-0,101**

(0,039)

Gegen Zuwanderung

0,305***

(0,049)

Keine Meinungsfreiheit

0,506***

(0,067)

Gesellschaft ungerechter

0,273**

(0,104)

Elite vs Volk

0,218*

(0,091)

Vertrauen Wissenschaft

-0,108**

(0,037)

Befragungsgebiet:

Ost

0,893***

(0,152)

Konstante

-9,913***

(0,905)

Var (Wahlkreis) Linke

0,315**

(0,110)

Var (Wahlkreis) AfD

0,377**

(0,129)

Kovarianz Linke AfD

0,098

(0,095)

Tabelle 4: Determinanten der Entscheidung für AfD und Linkspartei bei der Bundestagswahl 2021 (Teil 2)

Wie oben dargelegt soll dieses sehr sparsame Modell nun in einem letzten Schritt um vier weitere Einstellungen erweitert werden, um den besonderen Umständen der Bundestagswahl Rechnung zu tragen. Tabelle 4 zeigt die Ergebnisse der Schätzungen. Diese bestätigen die Hypothesen H4-H7.

Für die Linkspartei verstärkt sich der negative Effekt eines Lebensalters von mehr als 65 Jahren so weit, dass nun wieder die Schwelle zur statistischen Signifikanz überschritten wird. Alle anderen Parameter einschließlich derer für die drei zentralen Einstellungsvariablen bleiben unverändert. Von den neuen Einstellungsvariablen haben die Wahrnehmung zunehmender gesellschaftlicher Ungerechtigkeit und großer Unterschiede zwischen Volk und Elite den erwarteten positiven Effekt. Diese Effekte sind schwächer als die der zentralen Einstellungsvariablen, mit einer Veränderung der Odds um jeweils ca. 30 Prozent pro Skalenpunkt aber durchaus bedeutsam.

Bei der Wahl der AfD verliert durch die Einbeziehung weiterer Einstellungen nun auch der Effekt hoher formaler Bildung seine Signifikanz. Die Schätzungen für den Gendereffekt und den Effekt des fortgeschrittenen Lebensalters bleiben praktisch unverändert. Dies gilt im Wesentlichen auch für die Effekte, die von den Einstellungen zu Steuern/Sozialleistungen und zur Zuwanderung ausgehen. Um etwa ein Drittel reduziert wird aber der Effekt der Unzufriedenheit mit der Demokratie, vermutlich, weil einige Aspekte dieser Unzufriedenheit nun explizit modelliert werden. Die Wahrnehmung gesellschaftlicher Ungerechtigkeit und einer Kluft zwischen Elite und Volk haben die erwarteten positiven Effekte, die in ihrer Größenordnung mit den entsprechenden Werten für die Wahl der Linkspartei vergleichbar sind. Etwas stärker fällt der ebenfalls erwartete negative Effekt des Vertrauens in die Wissenschaft aus.

Sehr stark — in etwa mit dem Effekt der Einstellungen zur Zuwanderung vergleichbar — ist schließlich der Effekt, der von einer wahrgenommenen Einschränkung der Meinungsfreiheit ausgeht. Im Zusammenhang mit der Pandemiebekämpfung, aber auch in der Diskussion um die Rechte von benachteiligten Gruppen und anderen “kulturellen” Themen versuchen rechte Akteure auf der ganzen Welt, Widerspruch gegen die eigenen Positionen als Einschränkung ihrer demokratischen Rechte zu framen. Der vorliegende Befund deutet darauf hin, dass eine solche Strategie auch zum Erfolg der AfD beiträgt.

Zu bedenken ist dabei allerdings, dass eine ablehnende Haltung zur Migration und die Wahrnehmung einer eingeschränkten Meinungsfreiheit moderat positiv korreliert sind (), so dass sich die Frage stellt, ob hier in nennenswertem Umfang neue Wählergruppen angesprochen werden. Außerdem polarisiert die AfD stärker als irgendeine andere Partei: Im Vorwahlteil der GLES gaben 78 Prozent der westdeutschen und 68 Prozent der ostdeutschen Befragten an, dass sie diese Partei “mit Sicherheit nicht wählen” würden.10 Es ist deshalb durchaus plausibel, dass zumindest ein Teil der Befragten nicht deshalb für die AfD stimmt, weil sie sich eingeschränkt fühlen, sondern vielmehr als AfD-Anhänger den Druck des Meinungsklimas spüren.

In der Gesamtschau bleibt festzuhalten, dass alle vier zusätzlichen (und ebenso die drei ursprünglichen) Einstellungsvariablen Effekte auf die Wahlchancen der AfD haben. Trotzdem bleibt die Schätzung für den Regionaleffekt auch unter Einbeziehung dieser weiteren Einstellungen praktisch unverändert, d.h. die AfD profitiert anders als 2017 von einem Ost-Bonus.

Obwohl die Effekte, die sich aus den Tabellen ablesen lassen, recht klar und stark sind, ist es schwer, sich nur auf der Grundlage der numerischen Information einen Eindruck von ihrem Zusammenspiel und dessen politisch-praktischer Bedeutung zu machen. Dies liegt in der Natur des Modells: schon im Fall einfacher binär-logistischer Modelle ist wegen deren nicht-linearer Struktur und der Unsicherheiten, die sich aus der Schätzung der Parameter ergeben, eine graphische Darstellung der “quantities of interest”, d.h. der erwarteten Wahlwahrscheinlichkeiten, anzuraten (King et al. 2000). Dies gilt erst recht für multinomiale logistische Modelle mit mehreren unabhängigen Variablen, weil diese eine Vielzahl von Parametern beinhalten, deren Bedeutung und statistische Signifikanz von der gewählten Kodierung abhängen.

Die derzeit populärste Methode zur Erstellung solcher Darstellungen basiert auf “(average) predictive margins (at representative values)” (Williams 2012; Mize 2019). Zu deren Berechnung werden über alle Fälle hinweg einige fokale Variablen (hier: die regionale Zugehörigkeit und eine ausgewählte Einstellungsvariable) reihum auf die jeweils interessierenden Werte gesetzt, während alle anderen Variablen ihre Werte behalten. Auf dieser Grundlage werden dann für jeden Fall die erwarteten Wahrscheinlichkeiten berechnet und über die Stichprobe hinweg gemittelt. Dieses Vorgehen hat den Vorteil, dass die Schätzungen auf der Kombination tatsächlicher Beobachtungen basieren.

Effekt der Unzufriedenheit mit der Demokratie in Deutschland auf die Wahl von AfD und Linkspartei in Ost und West, Bundestagswahl 2021

Abbildung 5: Effekt der Unzufriedenheit mit der Demokratie in Deutschland auf die Wahl von AfD und Linkspartei in Ost und West, Bundestagswahl 2021

Trotzdem ist die Grundlage, auf der jede einzelne Schätzung beruht, kontrafaktisch: Das Ergebnis der Berechnung zeigt, mit welchen Stimmenanteilen auf Basis des Modells zu rechnen wäre, wenn beispielsweise alle Befragten in Ostdeutschland leben und die Demokratie in Deutschland sehr positiv wahrnehmen, aber ansonsten alle ihre anderen Eigenschaften behalten würden.

Genau diese fiktive Konstellation ist die Grundlage, auf der die beiden Punkte links unten im linken Panel bzw. links unten im rechten Panel von Abbildung 5 geschätzt wurden. Für die AfD sind unter diesen Umständen 3.0 Prozent, für die Linke 5.3 Prozent Zustimmung zu erwarten. Da es sich um modellbasierte Schätzungen handelt, sind beide Punkte mit einem Konfidenzintervall versehen. Ebenfalls links unten in den beiden Panels, aber mit einem Dreieck und einer gepunkteten Linie markiert, finden sich die Schätzungen für eine fiktive Konstellation, in der alle Befragten (bei ansonsten unveränderten Eigenschaften) mit der Demokratie hochzufrieden sind und in Westdeutschland leben. Für die AfD liegt der erwartete Stimmenanteil nun etwas niedriger bei 1.4 Prozent. Da sich die Konfidenzintervalle aber überschneiden, muss man davon ausgehen, dass diese Differenz nicht signifikant ist. Für die Linke wird ebenfalls ein deutlich niedrigeres Ergebnis von nur 1.6 Prozent erwartet. Diese Schätzung ist präzise, so dass hier eine signifikante Ost-West-Differenz besteht.

Alle übrigen Datenpunkte sind analog zu interpretieren. Sie zeigen jeweils, welche Wahlwahrscheinlichkeiten zu erwarten wären, wenn alle Befragten in der jeweiligen Region befragt und das entsprechende Maß an Unzufriedenheit empfinden würden, ansonsten aber ihre ursprünglichen Eigenschaften und Einstellungen behalten könnten. Im Ergebnis lässt sich aus ihnen ablesen, dass die Unzufriedenheit mit der Demokratie in beiden Regionen einen starken positiven Effekt auf die Wahl beider Parteien hat. Bei gleichem Niveau der Unzufriedenheit ist außerdem für beide Parteien die Wahlwahrscheinlichkeit im Osten höher, und dies teils sehr deutlich — dies ist der oben angesprochene Ost-Bonus, von dem sowohl die AfD als auch die Linke profitieren. Ebenfalls gut zu erkennen ist aber auch, dass für den Fall, in dem alle “unzufrieden” (4) bzw. “sehr unzufrieden” (5) wären, die erwarteten Wahlwahrscheinlichkeiten nicht mehr präzise geschätzt werden können, so dass die an dieser Stelle sehr großen Konfidenzintervalle überlappen.

Effekt von Einstellungen zu Steuern/Sozialausgaben auf die Wahl von AfD und Linkspartei in Ost und West, Bundestagswahl 2021

Abbildung 6: Effekt von Einstellungen zu Steuern/Sozialausgaben auf die Wahl von AfD und Linkspartei in Ost und West, Bundestagswahl 2021

Abbildung 6 zeigt die entsprechende Grafik für den Effekt der ökonomischen Einstellungen. In der rechten Hälfte ist zu sehen, dass auch diese Einstellung in beiden Regionen einen substantiellen positiven Effekt auf die Wahl der Linkspartei hat.11 Über den ganzen Bereich der Skala hinweg ist außerdem die erwartete Unterstützung im Osten signifikant höher als im Westen. Diese Kluft vergrößert sich mit zunehmender Unterstützung für höhere Steuern und Sozialausgaben weiter, zugleich sind die Schätzungen der Stimmenanteile bei extrem hohen Zustimmungswerten mit größeren Unsicherheiten behaftet. Für die Wahl der AfD ist der (negative) Effekt der ökonomischen Einstellungen deutlich schwächer. In beiden Regionen überlappen die Konfidenzintervalle benachbarter Schätzungen im mittleren Bereich der Skala. Unter der Annahme, dass alle Befragten eine sehr starke Präferenz für mehr Sozialleistungen haben, überlappen außerdem die Konfidenzintervalle für alte und neue Bundesländer, d.h. es ist nicht sicher, dass die AfD in dieser Konstellation in Ostdeutschland tatsächlich mehr Zustimmung erhalten würde als im Westen.

Effekt von Einstellungen zu Zuwanderung auf die Wahl von AfD und Linkspartei in Ost und West, Bundestagswahl 2021

Abbildung 7: Effekt von Einstellungen zur Zuwanderung auf die Wahl von AfD und Linkspartei in Ost und West, Bundestagswahl 2021

Abbildung 7 zeigt die erwarteten Stimmenanteile der beiden Parteien in Abhängigkeit vom Befragungsgebiet und den jeweiligen Annahmen über die Position der Respondenten zur Zuwanderung. Für die AfD würde der Stimmenanteil unter der Annahme, dass alle Befragten die Zuwanderung positiv sehen (<6 Punkte), in beiden Regionen unter fünf Prozent sinken. Erst dann, wenn alle Befragungspersonen sich bei ansonsten gleichen Eigenschaften negativ zur Zuwanderung positionieren, werden größere Stimmenanteile erwartet und nur dann öffnet sich die Schere zwischen beiden Regionen. Für die Linkspartei hingegen zeigt sich — bei teils deutlich größeren Konfidenzintervallen — ein fast spiegelbildliches Muster. In beiden Regionen werden für die Linke die besten Ergebnisse in einem Szenario erwartet, in der alle der Migration positiv gegenüberstehen. In einer Gesellschaft von Migrationsskeptikern, die allesamt im Westen leben, würde die Partei fast keine Resonanz finden. Unter der Annahme, dass alle Befragten in den neuen Ländern leben, wären die Zustimmungsraten deutlich höher, aber nicht sehr präzise zu bestimmen.

Effekt des Vertrauens in die Wissenschaft auf die Wahl von AfD und Linkspartei in Ost und West, Bundestagswahl 2021

Abbildung 8: Effekt des Vertrauens in die Wissenschaft auf die Wahl von AfD und Linkspartei in Ost und West, Bundestagswahl 2021

Die hier diskutieren Grafiken zeigen, wie sich Differenzen in den hier betrachteten Einstellungen in verschiedenen hypothetischen Szenarien auf die Unterstützung beider Parteien auswirken und an welchen Stellen darüber hinaus Regionaleffekte auftreten. In ihnen ist nochmals zu erkennen, wie sozio-ökonomische Präferenzen, die Position zur Zuwanderung und die Unzufriedenheit mit der deutschen Demokratie gemeinsam zum Verständnis der Wahl von Linkspartei und AfD in Ost-West-Perspektive beitragen.

Weisen die Ergebnisse für die vier anderen Einstellungen wesentlich über diesen Befund hinaus? Für das Vertrauen in die Wissenschaft lässt sich dies klar verneinen. Abbildung 8 zeigt, dass die Wahlwahrscheinlichkeit der Linkspartei in beiden Regionen kaum von Veränderungen in der Haltung gegenüber der Wissenschaft beeinflusst werden würde. Vergleicht man die Szenarien mit extrem niedrigem (1) und extrem hohem (11) Vertrauen, geht der erwartete Stimmenanteil zwar um einige Prozentpunkte zurück. Jede einzelne Schätzung ist aber mit einem so großen Konfidenzintervall behaftet, dass die Unterschiede zwischen den erwarteten Werten nicht signifikant sind. Dies gilt in ganz ähnlicher Weise auch für die AfD: auch hier ist der erwartete Rückgang nicht präzise zu bestimmen.

Effekt wahrgenommener sozialer Ungerechtigkeit auf die Wahl von AfD und Linkspartei in Ost und West, Bundestagswahl 2021

Abbildung 9: Effekt wahrgenommener gesellschaftlicher Ungerechtigkeit auf die Wahl von AfD und Linkspartei in Ost und West, Bundestagswahl 2021

Auch die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Entwicklung als ungerecht hat keinen Effekt, der sich sicher quantifizieren lässt. Zwar liegen die Punktschätzungen für eine hypothetische Gruppe von Befragten, aus deren Sicht (bei ansonsten unveränderten Eigenschaften) die Gesellschaft “sehr viel gerechter” geworden ist (1), jeweils deutlich unter dem Wert, der für eine Szenario geschätzt wird, in dem die Gesellschaft als “sehr viel ungerechter” wahrgenommenen wird. In fast allen Konstellationen sind die zugehörigen Konfidenzintervalle aber sehr breit (vgl. Abbildung 9), so dass nicht mit Sicherheit zu sagen ist, wie sich ein entsprechender Einstellungswandel auswirken würde.

Effekt der wahrgenommenen Kluft zwischen Elite und Volk auf die Wahl von AfD und Linkspartei in Ost und West, Bundestagswahl 2021

Abbildung 10: Effekt der wahrgenommenen Kluft zwischen Elite und Volk auf die Wahl von AfD und Linkspartei in Ost und West, Bundestagswahl 2021

Die erwarteten Effekte, die von der Wahrnehmung einer Kluft zwischen Elite und Volk ausgehen, lassen sich aus Abbildung 10 ablesen. In einem Szenario, in dem alle Respondenten in Westdeutschland befragt werden und der Aussage zum Verhältnis von Volk und Eliten voll zustimmen, schneidet die Linke mit großer Sicherheit etwas besser ab als in der Konstellation, in der all Befragten diese Aussage vollständig ablehnen. Die Differenz selbst ist relativ gering: Für den ersten Fall wird ein Stimmenanteil von knapp sechs, für den zweiten Fall von nur 2.2 Prozent geschätzt. Wären alle Respondenten in Ostdeutschland befragt worden, wäre mit Stimmenanteilen von 6.8 bzw. knapp 16 Prozent zu rechnen. Diese Schätzungen sind allerdings mit beträchtlichen Unsicherheiten behaftet. Für die AfD sind die Unterschiede unabhängig von der Region relativ gering, und die Konfidenzintervalle sind so weit, dass die fünf Szenarien innerhalb jeder Region nicht voneinander zu unterscheiden sind.

Effekt der wahrgenommenen Beschränkung der Meinungsfreiheit auf die Wahl von AfD und Linkspartei in Ost und West, Bundestagswahl 2021

Abbildung 11: Effekt subjektiv fehlender Meinungsfreiheit auf die Wahl von AfD und Linkspartei in Ost und West, Bundestagswahl 2021

Abbildung 11 schließlich zeigt den Einfluss der wahrgenommenen Meinungsfreiheit. Wären alle Befragten in Westdeutschland befragt worden, hätte dieses Item ceteris paribus kaum einen Einfluss auf die Chancen der Linkspartei. In einem Szenario, in dem sich niemand in seiner Meinungsfreiheit beschränkt fühlt, wird ein Stimmenanteil von 5.1 Prozent geschätzt; in einer fiktiven Situation, in der sich alle eingeschränkt fühlen, sind es 2.8 Prozent. Zugleich sind die Konfidenzintervalle so breit, dass es keine signifikant voneinander verschiedenen Differenzen gibt. Unter der Annahme, dass alle Respondenten in Ostdeutschland befragt worden wären, sind die erwarteten Unterschiede größer, zugleich verbreitern sich aber die Konfidenzintervalle so stark, dass die erwarteten Werte wiederum nicht signifikant voneinander verschieden sind. Ganz anders ist das Bild, dass sich für die AfD ergibt. Verglichen mit dem Szenario, in dem sich niemand eingeschränkt fühlt, ist hier der erwartete Stimmenanteil in beiden Regionen sehr viel höher, wenn man annimmt, dass alle Befragten “eher” zustimmen. Mit der “vollen” Zustimmung ist nochmals ein kräftiger Anstieg der Zustimmung verbunden, allerdings sind hier die Konfidenzintervalle so breit, dass sich nicht sicher sagen lässt, ob sich die Werte wirklich unterscheiden.

In der Gesamtschau illustrieren die Grafiken noch einmal, dass die Wahl der AfD durch die Ablehnung von Zuwanderung und die Unzufriedenheit mit der Demokratie (so, wie sie in Deutschland besteht) zu erklären ist. Darüber hinaus spielen das Gefühl, die eigene Meinung nicht frei äußern zu können sowie ökonomisch rechte Einstellungen eine Rolle. Für die Wahl der Linken sind vor allem ökonomisch linke Einstellungen, die Unzufriedenheit mit der Demokratie sowie die Befürwortung von Zuwanderung von Bedeutung. Die Grafiken zeigen außerdem eindrücklich, dass in der Unterstützung beider Parteien in fast allen Konstellationen substantielle und statistisch signifikante Ost-West-Differenzen bestehen.

Fazit und Ausblick

Auch mehr als dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung ist die Betrachtung von Ost-West-Differenzen im Wahlverhalten fester Bestandteil der Analysen zur Bundestagswahl. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: die Unterschiede, die sich entlang der alten Zonengrenze, in Berlin sogar entlang der früheren Sektorengrenze zeigen, sind buchstäblich augenfällig und bestimmen die politischen Diskussionen nach jeder Wahl.

Auch bei der Bundestagswahl erwies sich das ostdeutsche Elektorat wieder als in hohem Maße volatil, auch wenn die Wählerinnen und Wähler im Westen in dieser Hinsicht deutlich aufgeholt haben. Ein Ergebnis dieser Aggregatverschiebungen war das besonders schlechte Abschneiden der Union sowie der besonders hohe Zuwachs an Stimmen für die SPD, der im Ergebnis paradoxerweise dazu geführt hat, dass sich in dieser besonderen Hinsicht die Ost-West-Differenzen verringert haben.

Bestimmt wurde die öffentliche Debatte aber von den Verlusten der Linkspartei, deren bundesweites Zweitstimmenergebnis erstmals seit 2002 wieder unter die Fünfprozenthürde sank, sowie von der starken Stellung der AfD, die im Osten ihr Ergebnis von 2017 im Wesentlichen halten konnte, während sie in den alten Ländern teils deutliche Verluste hinnehmen musste. Wie 2017 stellte sich deshalb die Frage, ob die AfD im Begriff ist, die Linkspartei als ostdeutsche Regionalvertretung abzulösen.

Eine feingliedrige Analyse auf Basis der Bundesländer und Wahlbezirke ergab zunächst, dass die Ergebnisse beider Parteien innerhalb beider Großregionen in erheblichem Umfang variieren. Die Linke ist vor allem in Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Thüringen stark. Darüber hinaus ist sie in den beiden westdeutschen Stadtstaaten, im Saarland und in einigen westdeutschen Städten vergleichsweise erfolgreich. Die AfD hat ihren Schwerpunkt innerhalb Ostdeutschlands in Thüringen und in Sachsen sowie den angrenzenden Regionen der Länder Brandenburg und Sachsen-Anhalt. Ihre dortigen lokalen Hochburgen, in denen die AfD teils mit großem Abstand die stärkste Partei ist, liegen in kleineren, oft ländlichen Gemeinden. Ein ähnliches Gefälle ist — wenn auch auf höherem Niveau — in den alten Ländern zu verzeichnen: im Süden und Südwesten der alten Bundesrepublik ist die AfD relativ stark, während sie in den nördlicheren Bundesländern und hier vor allem in den Stadtstaaten deutlich schlechter abschneidet.

Auf der Mikro-Ebene lassen sich zunächst auch für 2021 wieder ausgeprägte Ost-West-Unterschiede bei den Einstellungen verzeichnen, von denen ein Einfluss auf die Wahl von AfD und Linkspartei zu erwarten ist. Dies betrifft vor allem die Position zur Zuwanderung und die Unzufriedenheit mit der bundesdeutschen Demokratie, aber auch das Gefühl, die eigene Meinung nicht frei äußern zu können.

In multivariater Betrachtung zeigt sich, dass diese drei Einstellungen gemeinsam mit den Präferenzen zum Thema Steuern/Sozialleistungen, dem Gefühl zunehmender gesellschaftlicher Ungerechtigkeit und der Wahrnehmung einer großen Distanz zwischen Volk und Eliten erhebliche Effekte auf die Unterstützung für beide Parteien haben. Dabei ist die Linkspartei bei Personen, die sich sowohl auf der sozio-ökonomischen Achse als auch bei der Zuwanderungsfrage als links einordnen, besonders erfolgreich. Bei der AfD ist es genau umgekehrt. Vom Eindruck zunehmender Ungerechtigkeit sowie einer Spaltung zwischen Volk und Elite profitieren beide Parteien; das Gleiche gilt für die Unzufriedenheit mit der Demokratie. Vom Gefühl fehlender Meinungsfreiheit hingegen kann ausschließlich die AfD profitieren. Dabei stellt sich allerdings die Frage, ob dieser Effekt tatsächlich kausal ist oder nicht zumindest teilweise die Polarisierung zwischen AfD-Anhängern und gesellschaftlicher Mehrheit (und auch die Möglichkeit einer zukünftigen Beobachtung durch den Verfassungsschutz) widerspiegelt.

Selbst unter Einbeziehung aller dieser Einstellungen bleibt aber für beide Parteien ein substantieller Regionaleffekt erhalten: Sowohl die AfD als auch die Linkspartei sind in den neuen Ländern insgesamt deutlich erfolgreicher,12 als dies allein auf Grund der Einstellungsunterschiede zu erwarten wäre — sei es aufgrund ihrer organisatorischen und personellen Stärke oder wegen anderer, hier nicht berücksichtigter Einstellungsunterschiede. Damit erfüllen beide Parteien alle in der Einleitung genannten Minimalkriterien für eine Regionalvertretung. Ob es der AfD gelingt, die Linke in dieser Rolle gänzlich abzulösen ist momentan jedoch ebenso offen wie die Frage, ob eine oder beide Parteien im Westen dauerhaft unter die Fünfprozenthürde fällt und damit tatsächlich zur ostdeutschen Regionalpartei wird.

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1 Veränderungen in der Zusammensetzung des Elektorats durch Neuzugänge, Wegzüge und Sterbefälle bleiben in dieser Perspektive unberücksichtigt.

2 Vor 2017 war ein solcher Zugang nur im Rahmen eines Antragsverfahrens möglich.

3 Zwar enthält der vom Bundestagswahlleiter erstelle Datensatz den amtlichen Schlüssel sowie den Namen der jeweiligen Gemeinde. Zahl, Größe, Aufgaben und Organisation der Gemeinden unterscheiden sich zwischen den Bundesländern aber sehr stark, so dass diese Informationen für bundesweite Analysen nicht verwertbar sind. So entfallen mehr als 2300 der rund 11000 Gemeinden in Deutschland auf das Land Rheinland-Pfalz, obwohl hier nur etwas weniger als fünf Prozent der deutschen Bevölkerung leben. Im Freistaat Sachsen, der vergleichbar viele Einwohnerinnen und Einwohner hat, existieren hingegen nur rund 420 Gemeinden.

Zudem schreibt die Bundewahlordnung vor, dass Wahlbezirke in denen weniger als 50 Personen ihre Stimme abgegeben haben, die Wahlurne an einen anderen Wahlbezirk desselben Kreises zur gemeinsamen Auszählung abgeben müssen, um das Wahlgeheimnis sicherzustellen. Dies betraf 2021 rund 400 Wahlbezirke.

Briefwahlbezirke sind vom Problem der fehlenden räumlichen Zuordenbarkeit in noch stärkerem Maße betroffen. Zwar korrespondieren Briefwahlbezirke in großen Städten oft mit einem einzigen Urnenwahlbezirk. In kleineren Städten existieren meist aber nur ein oder zwei Briefwahlbezirke für das gesamte Gebiet der Gemeinde. Außerhalb von Städten werden Briefwahlbezirke häufig gemeindeübergreifend gebildet.

4 Weil das Wahlgesetz die Urnenwahl als Regel betrachtet, ist umgekehrt auch in den Urnenwahlbezirken nicht ganz klar, wie hoch die Zahl der Wahlberechtigten tatsächlich ist, da hier nur die Erteilung eines Wahlscheins dokumentiert, der betreffende Name aber nicht in ein anderes Verzeichnis transferiert wird. Zwar wird ein Wahlschein in der Regel zur Briefwahl genutzt, es ist aber auch möglich, dass die betreffende Person in einem anderen Wahlbezirk des eigenen Wahlkreises oder sogar im ursprünglichen Wahlbezirk zu Wahl geht.

5 Solche extremen Werte finden sich in beiden Dresdner Bundestagswahlkreisen.

6 Hier und in allen folgenden Berechnungen wird die von der GLES bereitgestellte sozial- und regionalstrukturelle Gewichtungsvariable verwendet.

7 Einfache Bildung: kein Schulabschluss, Haupt- und Volksschulabschluss, Abschluss der Polytechnischen Oberschule (POS) mit der 8. oder 9. Klasse. Mittlere Bildung: Realschulabschluss, Mittlere Reife, Fachschulreife, Abschluss der POS mit der 10. Klasse. Hohe Bildung: alle Abschlüsse aber Fachoberschule/Fachhochschulreife.

8 Wie bei Wahlstudien üblich spielt die Nichtwahl in den GLES-Daten quantitativ fast keine Rolle.

9 Möglicherweise erklärt sich dies durch die Coronamaßnahmen, die sehr stark auf einen Schutz der älteren Generationen abzielten und im Gegenzug jüngere Menschen stärker belastet haben. Ohne entsprechende Hintergrundinformationen müssen solche Überlegungen aber spekulativ bleiben.

10 Die Vergleichswerte für die Linke liegen mit 45 bzw. 35 Prozent deutlich niedriger, bei den Grünen sind es 21 bzw. 33 Prozent.

11 Um die Lesbarkeit der Grafik zu verbessern, wurden die Wahrscheinlichkeiten nicht für alle elf Skalenpunkte sondern nur für die Werte 1, 4, 6, 8, 11 geschätzt.

12 Im Ergebnis sind in Ostdeutschland gewählte Abgeordnete in den Bundestagsfraktionen beider Parteien deutlich überrepräsentiert, und zwar noch stärker als schon 2017: 2021 wurden 36 Prozent der Abgeordneten der AfD und 45 Prozent der Abgeordneten der Linken in den neuen Ländern oder in Berlin gewählt. Der Anteil der Wahlberechtigten bzw. der abgegebenen Zweitstimmen aus diesen Bundesländern betrug hingegen nur 20.6 bzw. 19.9 Prozent.