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Die friedliche und die stille Revolution

 

Die Entwicklung gesellschaftspolitischer Wertorientierungen in Deutschland seit dem Beitritt der fünf neuen Länder

 

Kai Arzheimer / Markus Klein

 

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1. Einleitung und Problemstellung

Folgt -so könnte man fragen- in den neuen Bundesländern gegenwärtig auf die friedliche Revolution vom Herbst 1989 die stille Revolution des Wertewandels? So pointiert diese Vermutung auch formuliert sein mag, so unbewiesen ist die Prämisse, von der sie ausgeht: Daß nämlich in der ehemaligen DDR kein Wandel gesellschaftlicher Wertorientierungen stattgefunden habe und von daher nach der Vereinigung ein Prozeß der nachholenden Modernisierung althergebrachter Wertvorstellungen zu erwarten sei. Was aber, wenn es bereits unter dem SED-Regime Wertverschiebungen gab? Dann wäre zu fragen, ob der Wertewandel in der ehemaligen DDR die gleiche Richtung genommen hat wie in Westdeutschland oder ob er -etwa wegen der ideologischen Indoktrination der Bürger- einem anderen, genuin sozialistischen Wandlungspfad gefolgt ist (vgl. Klages 1992).

 

Bitte beachten Sie: Es handelt sich bei diesem Text nicht um die endgültige Druckfassung, sondern um ein Manuskript. Bitte zitieren Sie deshalb nur nach der gedruckten Fassung!

Da aus naheliegenden Gründen keine geeigneten Umfragedaten zur Verfügung stehen, die eine retrospektive Analyse des Wertewandels in der DDR ermöglichen würden, verdichten sich die genannten Untersuchungsaspekte letztlich zu folgender pragmatischer Forschungsfrage (vgl. Kaase 1993):

Wie ähnlich oder eben unähnlich waren die gesellschaftspolitischen Wertorientierungen von West- und Ostdeutschen zum Zeitpunkt der Vereinigung?

Die alte Bundesrepublik und die ehemalige DDR fungieren folglich als „Kontrollgruppen für den jeweils anderen Staat" (Herbert/Wildenmann 1991: 79), d.h. die Wertorientierungen der Westdeutschen müssen als Vergleichsfolie dienen, vor deren Hintergrund die Wertorientierungen der Ostdeutschen beurteilt werden können und umgekehrt. Sollte sich dabei zeigen, daß bereits 1990 eine weitgehende Übereinstimmung zwischen den Werthaushalten west- und ostdeutscher Bürgerinnen und Bürger bestand, so wäre -sofern sich in den Folgejahren kein Prozeß des Auseinanderlebens eingestellt hat- dem hier zu bearbeitenden Thema die Brisanz weitgehend genommen. Wenn sich hingegen bedeutsame Unterschiede nachweisen ließen, so wäre dies für das Gelingen der politischen Integration Deutschlands von nicht zu unterschätzender Bedeutung: Insbesondere wenn diese Unterschiede sich dauerhaft verfestigten, wäre die Herstellung der inneren Einheit Deutschlands ernsthaft gefährdet. Im vereinten Deutschland bestünden dann zwei getrennte politische Kulturen mit unterschiedlichen Konzeptionen einer wünschenswerten sozialen Ordnung. Die zweite Forschungsfrage, mit der sich der vorliegende Beitrag auseinandersetzt, ist dementsprechend die folgende:

Wie haben sich die gesellschaftspolitischen Wertorientierungen west- und ostdeutscher Bürgerinnen und Bürger seit der Vereinigung entwickelt? Haben sie sich angeglichen, auseinanderentwickelt oder sind etwaige Unterschiede erhalten geblieben?

 

2. Theoretische Vorüberlegungen

 

2.1 Das Wertkonzept und seine Bedeutung für die Analyse des
Vereinigungsprozeß

Unter einem Wert wird in Anlehnung an die klassische Definition von Kluckhohn eine Konzeption des Wünschenswerten verstanden. Gesellschaftspolitische Werte sind dementsprechend „Konzeptionen der wünschenswerten Gesellschaft" (Parsons 1980: 185). Solche Werte sind damit aber noch keine Bestandteile des individuellen Überzeugungssystems, sondern sind vielmehr als abstrakte Konzeptionen eines wünschenswerten sozialen Zustands zu sehen, die auch unabhängig von ihren Trägern als objektive Sachverhalte existieren (vgl. Gabriel 1986: 24). Erst durch ihre Internalisierung werden sie als gesellschaftspolitische Wertorientierungen zum Bestandteil des individuellen Überzeugungssystems.

Ihre besondere Bedeutung für die Analyse des Vereinigungsprozesses beziehen gesellschaftspolitische Wertorientierungen aus der Tatsache, daß es sich bei ihnen um intraindividuell relativ stabile Konstrukte mit einer zentralen Stellung innerhalb des Überzeugungssystems einer Person handelt. Wertorientierungen besitzen folglich verhaltenssteuernde Funktion, indem sie als internalisierte Auswahlstandards Rangfolgen der Bevorzugung zwischen verschiedenen Handlungsalternativen und Beurteilungsobjekten festlegen und damit die Bildung von Präferenzen ermöglichen. Bei gesellschaftspolitischen Wertorientierungen ist „das Objekt der Beurteilung die Gesellschaft und deren soziale Strukturen" (Bürklin 1988: 106). Damit unterscheiden sie sich von privaten Wertorientierungen, die sich auf den persönlichen Lebensplan des Individuums beziehen. Sollte es nun dem SED-Regime im Laufe seiner 40 Jahre währenden Herrschaft gelungen sein, sozialistische Ordnungs- und Wertvorstellungen prägend zu sozialisieren, so stünde zu erwarten, daß die ostdeutsche Bevölkerung das von der Bundesrepublik übernommene Normen- und Institutionengefüge, das auf den Werten einer demokratischen Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft ruht, dauerhaft ablehnt. In diesem Zusammenhang ist insbesondere auf die Wirtschaftsordnung zu verweisen: Da die Wirtschaft eines der zentralen Subsysteme der Gesellschaft darstellt, sind die Vorstellungen über die wünschenswerte Wirtschaftsordnung auch eine zentrale Teilmenge der gesellschaftspolitischen Wertorientierungen einer Person. Darüber hinaus kann man mit einiger Berechtigung vermuten, daß wirtschaftsbezogenen Wertorientierungen im Zusammenhang mit der deutschen Einheit eine besondere Bedeutung zukam und -kommt: Geben doch retrospektiv immerhin 62 Prozent der ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger an, „daß ihnen an der Wende und der Vereinigung die Verbesserung der wirtschaftlichen Situation besonders wichtig gewesen sei, während nur 49 Prozent der Tatsache, nun in einem demokratischen System leben zu können, eine ebenso große Bedeutung zusprachen" (Westle 1994: 577; vgl. auch Gluchowski/Zelle 1992: 232ff). Im folgenden werden wir daher einen besonderen Schwerpunkt auf die Analyse wirtschaftsbezogener Wertorientierungen, d.h. insbesondere auf die Akzeptanz marktwirtschaftlicher Funktionsprinzipien legen.

2.2 Konkurrierende Hypothesen des Wandels gesellschaftspolitischer Wertorientierungen in der ehemaligen DDR

Die Frage nach der Werte-Entwicklung in den fünf neuen Ländern ist nicht zu trennen von der Frage, ob sich bereits in der ehemaligen DDR ein Wertewandel vollzogen hat oder nicht, da sowohl die Ausgangslage zum Zeitpunkt der Vereinigung als auch die darauf folgenden Wandlungstendenzen maßgeblich von den Entwicklungen in der Vor-Wende-Zeit determiniert waren. Bezüglich des Wertewandels in der ehemaligen DDR lassen sich in der empirisch orientierten Forschung seit 1990 drei konkurrierende Deutungsmuster ausmachen, die von unterschiedlichen Annahmen hinsichtlich der Existenz und der inhaltlichen Natur eines genuinen DDR-Wertewandels ausgehen (in Anlehnung an Klages/Gensicke 1992):

2.2.1 Die Konservierungshypothese

Die Konservierungshypothese besagt, daß es der SED-Führung nicht gelungen sei, bei der Herausbildung des „Neuen Sozialistischen Menschen" entscheidende Erfolge zu erzielen: Vielmehr sei es in der Bevölkerung der ehemaligen DDR angesichts der ideologischen Zumutungen des Systems zu einer "mentalen Einigelung und zur Konservierung derjenigen kleinbürgerlichen Wertesubstanz [gekommen], die in Deutschland um die Jahrhundertmitte dominierte" (Klages/Gensicke 1992: 304). Ein Wertewandel habe somit nicht stattgefunden.

Diese Hypothese wurde insbesondere unmittelbar nach der Wiedervereinigung von vielen Autoren vertreten und schien durch die ersten empirischen Analysen auch gestützt zu werden: So konnten Herbert und Wildenmann nachweisen, daß im Frühjahr 1990 die privaten Wertvorstellungen der ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger stärker materialistisch und konventionalistisch geprägt waren als diejenigen der Westdeutschen (Herbert/Wildenmann 1991). Nur einen Monat später wurde von ipos im Auftrag des Bundesinnenministeriums die Repräsentativumfrage „Einstellungen zu aktuellen Fragen der Innenpolitik" erstmals auch in der ehemaligen DDR durchgeführt. Bauer-Kaase kam in ihrer Auswertung dieser Studie zu Ergebnissen, die die Befunde von Herbert und Wildenmann weitgehend bestätigten: „Auffallend ist .. im Osten die starke Betonung traditioneller Werte ... der Leistungsorientierung und des Bestrebens, Unterschiede in Fähigkeiten, Bildung und Leistung finanziell zu belohnen. Es ist erneut augenfällig, daß diese Werthaltungen einige Parallelen zu den Werthaltungen der Bürger im Westen während der formativen Phase der Bundesrepublik in der Wiederaufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg aufweisen" (Bauer 1991: 440). Mit der Herbststudie des Sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituts der Konrad Adenauer Stiftung kam schließlich auch eine dritte im Jahr 1990 durchgeführte Umfrage zu vergleichbaren Ergebnissen (vgl. Gluchowski/Zelle 1992: 236ff): In ihrem Rahmen zeigte sich, daß die Ostdeutschen in sehr viel stärkerem Maße als die Westdeutschen der Meinung waren, auf Leistung, Leistungsbereitschaft, Fleiß, Wohlstand und persönliches Eigentum solle in Staat und Gesellschaft großen Wert gelegt werden. Gluchowski und Zelle konstatierten: „Damit heben sich die Ostdeutschen hinsichtlich derjenigen Werte, die einem Wirtschaftswachstum förderlich sein können, deutlich von den Westdeutschen ab. Es sind dies die Werte, die in Westdeutschland im Zuge des Wertewandels an Bedeutung verloren haben" (1992: 237). Diese und andere, hier nicht diskutierte empirische Befunde führten im Ergebnis dazu, daß zumindest unmittelbar nach der Wende die Gültigkeit der Konservierungshypothese als vergleichsweise fest etabliertes Forschungswissen galt.

2.2.2 Die Sozialisationshypothese

Mit zunehmendem zeitlichen Abstand von der Wiedervereinigung und einer breiteren verfügbaren Datenbasis wurden aber sehr bald Zweifel an der Gültigkeit der Konservierungshypothese laut, die vor allem auf zwei empirischen Befunden gründeten: Zum einen zeigte sich bereits 1991 ein deutlicher Rückgang der ostdeutschen Begeisterung für leistungsorientierte Werte (vgl. Bauer-Kaase 1994), zum anderen wiesen die zwischenzeitlich einer detaillierteren Analyse unterzogenen Wertsysteme der Ostdeutschen einige aus westdeutscher Sicht eigentümliche Widersprüchlichkeiten auf. So befürworteten die ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger zwar das Leistungsprinzip, lehnten aber gleichzeitig die daraus notwendigerweise resultierende soziale Ungleichheit ab. Sie plädierten für die Marktwirtschaft, wollten dem Staat gleichzeitig aber weitreichenden Einfluß auf Löhne und Preise einräumen und ihn für die Bereitstellung von Arbeitsplätzen und Wohnungen verantwortlich machen (vgl. Gluchowski/Zelle 1992, Gensicke 1993, Bürklin 1993).

Erklärt wurden diese vermeintlichen Widersprüche durch den Verweis auf die offizielle politische Zielkultur der DDR, in deren Zentrum das Modell des „sozialistischen Industriestaates" gestanden habe, „in dem die als typisch deutsch/preußisch/protestantisch geltenden Werte Leistung, Disziplin und Aufstiegsorientierung mit den ideologischen Zielsetzungen eines egalitären Sozialismus verbunden wurden" (Bürklin 1993: 141): „Das Bekenntnis zu Wirtschaftswachstum, Leistungsprinzip und technischem Können bei gleichzeitiger Propagierung des formal damit im Widerspruch stehenden Ziels der egalitären Gesellschaft" (ebd. 142) habe entsprechend im Zentrum der offiziellen politischen Kultur der DDR gestanden. Aus der Tatsache, daß sich diese eigentümliche „Werte-Melange" (Greifenhagen/Greifenhagen 1993: 173) auch in den Überzeugungssystemen der ostdeutschen Menschen nachweisen lasse, könne folglich auf erfolgreiche Sozialisationsbemühungen des SED-Regimes geschlossen werden. Zwar sei die ehemalige DDR durch eine politische „Doppelkultur" gekennzeichnet gewesen, also durch das Vorliegen einer informellen politischen Kultur, die sich in den privaten Rückzugs-"Nischen" der Menschen neben der offiziellen Zielkultur entwickelt habe, doch sei diese von den politischen Indoktrinationsversuchen des Regimes nicht völlig abgekoppelt gewesen. Nach Sontheimer standen politische Zielkultur und politische Realkultur vielmehr in einem interdependenten Verhältnis (Sontheimer 1990: 73).

Die in der Diskussion um den Wertewandel in der ehemaligen DDR nun verstärkt vertretene Sozialisationshypothese geht folglich im Unterschied zur Konservierungshypothese davon aus, daß es in der DDR durchaus einen Wertewandel gab, daß dieser aber vorrangig durch die Existenzbedingungen der Menschen im sozialistischen Industriestaat DDR geprägt war und daher eine andere Richtung genommen habe als der Wertewandel in der alten Bundesrepublik: So sei aufgrund der umfassenden Sozialisationsbemühungen des SED-Regimes, insbesondere unter Ulbricht, eine stärkere Bedeutung des Wertes der wirtschaftlich-sozialen Gleichheit bei gleichzeitiger Akzeptanz des Leistungsprinzips (vgl. Sontheimer 1990, Bürklin 1993) zu erwarten.

2.2.3 Die Kongruenzhypothese

Die Kongruenzhypothese schließlich besagt, daß es auch in der ehemaligen DDR einen Wertewandel gegeben habe und daß dieser dieselbe Richtung nahm wie der Wertewandel in Westdeutschland. Begründet wird diese Kongruenz der Wertewandelsprozesse in Ost und West mit zwei Argumenten (vgl. Klages/Gensicke 1993: 56f):

Gensicke (1992) argumentiert, daß der Wandel gesellschaftspolitischer Wertorientierungen in erster Linie das Ergebnis sozialer Modernisierungsprozesse ist und daß sich in Ostdeutschland vergleichbare Modernisierungsprozesse vollzogen hätten wie in Westdeutschland. Er nennt in diesem Zusammenhang insbesondere den Wandel der Wirtschaftsstruktur hin zu einer stärkeren Bedeutung des tertiären Sektors, den damit verbundenen Wandel der Berufsstruktur, die Bildungsexpansion, die Verstädterung, den (relativen) Massenwohlstand sowie die zunehmende Freizeit. Es habe sich als Ergebnis dieser Veränderungen in der ehemaligen DDR ebenso wie in Westdeutschland eine Entwicklung weg von den "alten" Pflicht- und Akzeptanzwerten hin zu den "neuen" Selbstentfaltungswerten vollzogen. Klages und Gensicke (1993: 55, 57) sehen in diesem Wertewandel sogar eine der entscheidenden Ursachen für den Zusammenbruch der DDR. In dieser theoretischen Perspektive geht folglich -anders als in der einleitend geäußerten Vermutung- die stille Revolution der friedlichen voraus.

Ein weiteres Argument zur Stützung der Kongruenzhypothese ist die oben schon angesprochene Tatsache, daß sich in der ehemaligen DDR neben der offiziellen eine Art „Nischen"-Gesellschaft etabliert hatte (Sontheimer 1990: 71), in der durchaus „Freiräume zu unabhängigem und selbstständigem [Denken und] Handeln gegeben" (Klages/Gensicke 1992: 57) waren. Dementsprechend sei auch das private, nicht-offizielle Bewußtsein der DDR-Bürger von den offiziell propagierten Werten kaum beeinflußt worden. Vielmehr habe das westdeutsche Wirtschafts- und Gesellschaftssystem seit jeher einen positiven Referenzstandard für die Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR dargestellt, diese hätten sich daher bereits unter dem SED-Regime an den westlichen Werten orientiert. Hervorgehoben wird dabei insbesondere der Einfluß des Westfernsehens, das gewissermaßen eine „virtuelle" (Westle 1994: 572) politische Sozialisation der DDR-Bürger bewirkt habe.

Die empirischen Befunde, die zumindest noch 1990 auf eine stärkere Bedeutung materialistischer und konventionalistischer Wertorientierungen in der ehemaligen DDR hindeuteten, können nach Klages und Gensicke weder als Indiz für die von der Konservierungshypothese behauptete Stagnation der Werteentwicklung in Ostdeutschland noch als Beleg für eine eventuelle Umkehrung des Wertewandels gedeutet werden: Es handle sich hier vielmehr um „eine temporäre [Hervorhebung durch die Autoren] Reaktivierung von Pflicht- und Akzeptanzwerten in der Situation einer besonderen Belastung und einer Herausforderung zur Anspannung aller individuellen Kräfte" (Klages/Gensicke 1993: 56). Westle geht gar soweit, „die bislang als eher selbstverständlich vorausgesetzte Möglichkeit einer „Nullmessung" der politischen Orientierungen der Ostdeutschen unmittelbar vor und während der Vereinigung" (Westle 1994: 573) grundsätzlich zu bezweifeln, da ein ex post nicht mehr differenzierbares Faktorenbündel (marktwirtschaftliche Euphorie, mangelnde Vertrautheit mit dem Instrumentarium der Umfrageforschung sowie soziale Erwünschtheit vor dem Hintergrund von Wirtschaftsunion und Wiedervereinigung) die Messungen überlagert habe.

 

2.3 Implikationen der drei Hypothesen hinsichtlich der beiden Forschungsfragen

Die drei konkurrierenden Hypothesen über Existenz und inhaltliche Natur eines Wertewandels in der ehemaligen DDR besitzen unterschiedliche Implikationen hinsichtlich der beiden von uns formulierten Forschungsfragen nach der mentalen Befindlichkeit der Deutschen zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung und den darauffolgenden Entwicklungen:

Das unproblematischste Szenario ist dabei mit der Kongruenzhypothese verbunden. In dieser theoretischen Perspektive verfügen West- und Ostdeutsche über weitgehend identische Wertorientierungen, so daß mit größeren Friktionen bei der Herstellung der inneren Einheit Deutschlands nicht zu rechnen sei. Auch für die Zeit nach der Wiedervereinigung wird keine genuin ostdeutsche Wertentwicklung erwartet (vgl. Gensicke 1992; Klages/Gensicke 1992, 1993).

Weitgehend unproblematisch sind auch die Implikationen der Konservierungshypothese: Zwar verfügten Ostdeutsche über eher konventionalistisch und materialistisch geprägte Wertorientierungen, doch sei dies für den wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Bundesländern durchaus funktional, da dies auch das Werteinventar sei, daß in Westdeutschland das Wirtschaftswunder der 50er und 60er Jahre ermöglicht habe (vgl. Gluchowski/Zelle 1992: 237). Da die Wertentwicklung der Ostdeutschen gewissermaßen in den fünfziger Jahren steckengeblieben sei, könne damit gerechnet werden, daß sich aufgrund des „Modernisierungsschocks" (Weidenfeld/Korte 1991), den die Wiedervereinigung mit sich bringe, ihre Wertorientierungen nun relativ schnell an die der Westdeutschen angleichen werden. Die Konservierungshypothese impliziert folglich, daß „eine kurzfristige `Nachholung` des Wertewandels möglich ist" (Klages/Gensicke 1992: 304).

Die gravierendsten Konsequenzen sind mit der Sozialisationshypothese verbunden: Sollten die Ostdeutschen wirklich über eine geringere Akzeptanz wirtschaftlich bedingter sozialer Ungleichheit verfügen, so stünde dies im Widerspruch zu einem Grundprinzip des westlichen Wirtschafts- und Sozialsystems, nach dem Rangunterschiede und soziale Ungleichheiten zwischen den Menschen ihre Legitimation finden in deren unterschiedlichen Beiträgen zum ökonomischen Marktprozeß. Die dauerhafte Ablehnung dieses Prinzips durch die ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger könnte bei der Herstellung der inneren Einheit Deutschlands zu erheblichen Problemen führen. Da der Wert der sozialen Gleichheit in den Überzeugungssystemen der Ostdeutschen relativ tief verwurzelt sei, müsse damit gerechnet werden, daß dieser die politische Kultur Ostdeutschlands noch lange prägen und die Akzeptanz der marktwirtschaftlichen Ordnung noch lange bedrohen werde (vgl. Bürklin 1993). Eine Angleichung käme erst innerhalb eines längeren Zeitraumes, im schlimmsten Falle erst durch die Generationensukzession zustande.

3. Datenbasis und Operationalisierung

Ziel der vorliegenden Studie ist der empirische Test der drei im vorangegangenen Teil skizzierten Hypothesen. Da -wie in der Einleitung bereits ausgeführt- Umfragedaten aus der ehemaligen DDR nicht zur Verfügung stehen, kann dieser empirische Test nur bedingt und nur über analysetechnische „Umwege" erfolgen: Wir werden die Hypothesen ausgehend von ihren Implikationen für die mentale Befindlichkeit der Ostdeutschen zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung und hinsichtlich der von ihnen prognostizierten Entwicklungen in der Nach-Wende-Zeit testen (vgl. Kapitel 2.3). Dazu bedarf es Daten, die zwei Voraussetzungen erfüllen müssen: Zum einen sollten sie eine Längsschnittperspektive aufweisen, d.h. den Zeitraum seit dem Fall der Mauer Ende 1989 möglichst umfassend abdecken, zum anderen sollten sie sich über den gesamten erfaßten Zeitraum eines einheitlichen und bewährten Instruments zur Messung gesellschaftspolitischer Wertorientierungen bedienen.

Als Basis für unsere Analysen dient das in den repräsentativen Bevölkerungsumfragen „Einstellungen zu aktuellen Fragen der Innenpolitik", die alljährlich von IPOS im Auftrag des Bundesinenministeriums durchgeführt werden, enthaltene Instrument zur Erfassung gesellschaftspolitischer Wertorientierungen. Den Befragten werden hierbei insgesamt neun Items vorgelegt, die unterschiedliche Aspekte eines wünschenswerten Gesellschaftstyps repräsentieren. Die Messung wird jeweils durch Selbsteinstufung der Respondenten auf einer siebenstufigen Skala realisiert, deren Endpunkte konträre Vorstellungen repräsentieren (vgl. Abb. 1). Durch diese bipolare Konstruktion der Skalen werden allerdings bestimmte Inkonsistenzen im Antwortverhalten, die vor dem Hintergrund unserer theoretischen Vorüberlegungen durchaus zu erwarten sind (z.Bsp. der Wunsch nach leistungsgerechter Bezahlung und einer egalitären Einkommensverteilung) von vorneherein ausgeschlossen.

Für die alten Bundesländer liegen diese Daten seit 1984 vor, in den neuen Bundeländern wurde mit der Erhebung im Frühjahr 1990 begonnen. Die letzte verfügbare Umfrage stammt aus dem Jahr 1995, im Jahr 1994 wurde die Datenerhebung vom Auftraggeber ausgesetzt. Um die Implikation der von uns formulierten Hypothesen auch mittels multivariater Modelle testen zu können, haben wir die Befragungen, die in West- und Ostdeutschland zwischen 1990 und 1995 vorgenommen wurden, zu einem einzigen großen Datensatz kumuliert.

 

 

Abb. 1: Die Wertindikatoren der IPOS-Umfragen
„Einstellungen zu aktuellen Fragen der Innenpolitik"

 

Wir haben hier einige unterschiedliche Beschreibungen, wie Gesellschaften aussehen können. Bitte sagen Sie uns zu jeder Beschreibung, wo sie eher leben wollen: in der auf der linken Seite beschriebenen Gesellschaft oder in der auf der rechten Seite beschriebenen Gesellschaft. Je weiter Sie auf der Skala nach links oder nach rechts gehen, desto eher wollen Sie in der dort jeweils beschriebenen Gesellschaft leben.

1. Lebensstandard leistungsabhängig *

Eine Gesellschaft, die dem einzelnen einen gewissen Lebensstandard sichert, auch wenn er weniger leistet

1 2 3 4 5 6 7

Eine Gesellschaft, in der der Lebensstandard des einzelnen in erster Linie von seiner Leistung abhängt

2. Marktwirtschaft

Eine Gesellschaft, in der die Wirtschaft eher zentral geplant wird

1 2 3 4 5 6 7

Eine Gesellschaft, die sich eher auf die Marktwirtschaft verläßt

3. Anreizkompatible Einkommensverteilung *

Eine Gesellschaft, die Wert auf ähnliche hohe Einkommen für jeden legt

1 2 3 4 5 6 7

Eine Gesellschaft, die Unterschiede in Fähigkeiten, Bildung und Leistung belohnt

4. Wirtschaftswachstum begrenzen

Eine Gesellschaft, die Wirtschaftswachstum fördert

1 2 3 4 5 6 7

Eine Gesellschaft, die Wirtschaftswachstum begrenzt

5. Starke Polizei

Eine Gesellschaft, die versucht, mit möglichst wenig Polizei auszukommen

1 2 3 4 5 6 7

Eine Gesellschaft, in der eine starke Polizei für Sicherheit und Ordnung sorgt

6. Umweltschutz vor Wirtschaftswachstum

Eine Gesellschaft, die Wirtschaftswachstum über Umweltschutz stellt

1 2 3 4 5 6 7

Eine Gesellschaft, die Umweltschutz über Wirtschaftswachstum stellt

7. Elitenherrschaft

Eine Gesellschaft, die bei wichtigen politischen Entscheidungen die Bürger beteiligt, auch wenn es dabei zu Verzögerungen kommt

1 2 3 4 5 6 7

Eine Gesellschaft, die wichtige politische Entscheidungen den Verantwortlichen überläßt, die dann schnell entscheiden können

8. Staatliche Vorsorge

Eine Gesellschaft, in der der einzelne Bürger eher selbst für Alter und Krankheit vorsorgt

1 2 3 4 5 6 7

Eine Gesellschaft, in der eher der Staat die Vorsorge für Alter und Krankheit des einzelnen übernimmt

9. Technik-Optimismus

Eine Gesellschaft, die dem technischen Fortschritt eher skeptisch gegenübersteht, weil er große Gefahren für die Zukunft in sich birgt

1 2 3 4 5 6 7

Eine Gesellschaft, die den technischen Fortschrit fördert, weil er die Zukunft sichert

* Im Fragebogen in umgekehrter Polung erhoben.

 

 

4. Der empirische Befund

4.1 Univariate Betrachtung

Tabelle 1 zeigt die Entwicklung gesellschaftspolitischer Wertorientierungen in der Bundesrepublik Deutschland, wie sie durch das IPOS-Instrument beschrieben wird. Die Zeitreihe beginnt für Westdeutschland im Jahr 1984 und weist auf der Aggregatebene eine bemerkenswerte Stabilität auf: Die Mittelwerte der einzelnen Wertitems schwanken über den gesamten Zehnjahreszeitraum nur marginal, was mit aller gebotenen Vorsicht als Indiz dafür gedeutet werden kann, daß hier wirklich situationsübergreifende Wertorientierungen und nicht bloß Einstellungen zu tagespolitischen Issues gemessen werden. Eine bedeutsame Ausnahme ist allerdings zu beobachten: Die drei Items, die sich auf das Wirtschaftssystem beziehen und die Akzeptanz marktwirtschaftlicher Prinzipien erfassen sollen (Items 1 bis 3) weichen in den Jahren 1990 und 1991 merklich von ihrem langjährigen Durchschnittswert ab und zwar jeweils in Richtung hin auf den marktwirtschaftlichen Pol der beiden gegenübergestellten Ordnungskonzepte. Hier scheint das epochale Ereignis des Zusammenbruchs der ehemaligen Ostblockstaaten den Glauben an die Überlegenheit der westlich-marktwirtschaftlichen Ordnung kurzzeitig überhöht zu haben. Dieser Befund wird im folgenden noch von einiger Bedeutung sein.

Doch richten wir unser Augenmerk zunächst auf die neuen Bundesländer und rufen uns gleichzeitig die Implikationen der drei konkurrierenden Hypothesen hinsichtlich der mentalen Lage der Nation im „Basisjahr" 1990 ins Gedächtnis zurück: Nach der Kongruenzhypothese sollten schon zu diesem Zeitpunkt West- und Ostdeutsche identische Werthaushalte aufweisen, während die Konservierungs- und die Sozialisationshypothese bedeutsame Unterschiede -wenn auch unterschiedlicher inhaltlicher Natur- erwarten ließen. Tabelle 1 zeigt in Übereinstimmung mit den beiden letztgenannten Hypothesen, daß im Wiedervereinigungsjahr 1990 in der Tat beträchtliche Differenzen zwischen den gesellschaftlichen Wertvorstellungen von West- und Ostdeutschen gemessen wurden: So bekannten sich die Ostdeutschen in stärkerem Maße zu Wirtschaftswachstum und Leistungsprinzip, gaben der Marktwirtschaft noch akzentuierter als die Westdeutschen den Vorzug vor planwirtschaftlichen Experimenten, äußerten sich positiver zur Rolle des technischen Fortschritts und wünschten sich eine starke Polizei. Da solche Werthaltungen auch für die westdeutsche Gesellschaft der fünfziger und frühen sechziger Jahre typisch waren, scheinen diese Ergebnisse zunächst für die Konservierungshypothese zu sprechen.

Gleichzeitig enthält Tabelle 1 aber auch Befunde, die gegen die Hypothese der Wertkonservierung sprechen: Trotz der nachdrücklichen Bekenntnisse zum marktwirtschaftlichen Prinzip wünschen sich die Ostdeutschen ein deutlich höheres Maß an staatlicher Daseinsfürsorge als die Westdeutschen. Im Konflikt zwischen Wirtschaftswachstum und Umweltschutz sind schon 1990 praktisch keine Unterschiede zwischen West und Ost nachweisbar. Beim Item „Bürgerbeteiligung vs. Elitenherrschaft" (Item 7) hingegen erweisen sich die vermeintlich „deutscheren Deutschen" sogar als deutlich partizipationsorientierter. Dies alles deutet darauf hin, daß sich auch in der DDR spezifische Wertewandelsprozesse vollzogen haben, die mit der Vorstellung eines „eingefrorenen" Wertesystems nicht in Einklang zu bringen sind, so daß die Konservierungshypothese bereits an dieser Stelle als widerlegt betrachtet werden kann.

Erweitert man die bislang rein zeitpunktbezogene Betrachtung um eine längsschnittliche Perspektive, so wird der empirische Befund noch uneinheitlicher: Bereits 1991 läßt sich ein deutlicher Rückgang bei den marktwirtschaftlichen Wertorientierungen in Ostdeutschland beobachten. Die entsprechenden Durchschnittswerte nähern sich weitgehend den Zahlen für das alte Bundesgebiet an. So weisen die Ostdeutschen 1991 auf der Skala „Akzeptanz marktwirtschaftlicher Prinzipien", die sich additiv aus den Items 1 bis 3 zusammensetzt, im Durchschnitt denselben Skalenwert auf wie die Westdeutschen, während sie in den drei Folgejahren sogar geringfügig unter diesen liegen.

Für diesen Befund lassen sich zwei unterschiedliche Erklärungen ins Feld führen:

Entweder postuliert man für die Zeit unmittelbar nach der Wiedervereinigung eine Art kollektives Trauma, das das über vier Jahrzehnte hinweg gleichsam im Untergrund konservierte Wertesystem der Ostdeutschen schlagartig zum Einsturz brachte, also einen fundamentalen, die gesamte ostdeutsche Bevölkerung erfassenden Wertewandel, der sich innerhalb allerkürzester Zeit vollzog (Periodeneffekt). Eine solche Annahme steht nur scheinbar im Widerspruch zur Konzeption von Wertorientierungen als intraindividuell relativ stabilen Konstrukten. Tatsächlich kann mit einiger Berechtigung davon ausgegangen werden, daß sich durch ein derart einschneidendes historisches Ereignis wie eine Systemtransformation, die in fast allen Lebensbereichen eine grundlegende Neuorientierung erzwingt, auch auf der individuellen Ebene Wertorientierungen relativ rasch ändern können.

Oder aber man nimmt mit Westle (1994) an, daß die Meßwerte des Jahres 1990 insofern verzerrt waren, als „langfristig erworbene ‘tieferliegende’ politische Orientierungen durch die sich überstürzenden Ereignisse der Wende und des Vereinigungsprozesses überlagert wurden, in empirischen Erhebungen also nicht oder nur wenig zum Ausdruck kamen" (Westle 1994: 573). Die eigentlichen Wertorientierungen der Ostdeutschen würden in dieser Perspektive also kurzfristig durch die mit der Systemtransformation verbundenen Orientierungsprobleme und „Wertturbulenzen" überlagert und erst mit zunehmendem zeitlichen Abstand wieder zum Vorschein kommen.

Die erstgenannte Interpretation würde dabei mit der um einen wiedervereinigungsbedingten Kollaps des konservativen ostdeutschen Wertesystems erweiterten Konservierungshypothese in Einklang stehen; letztere mit der Sozialsationshypothese, wenn man davon ausgeht, daß die Messungen unmittelbar nach der Wiedervereinigung durch die oben beschriebenen besonderen Umstände verzerrt waren.

Ein stringenter empirischer Test dieser beiden konkurrierenden Erklärungen für die Wertedynamik unmittelbar nach der Wiedervereinigung ist mangels einer vor das Jahr 1990 zurückreichenden Zeitreihe für Ostdeutschland nicht möglich. Unsere folgenden Überlegungen stützen sich daher in erster Linie auf Plausibilitätsgründe. Das Hauptargument dafür, die beschriebenen Entwicklungen als das Ergebnis von kurzzeitigen Orientierungsproblemen zu interpretieren und nicht als Wertewandel im „Zeitraffertempo", besteht darin, daß auch im Westen ein vergleichbare Entwicklung zu beobachten war: Wie eingangs dieses Kapitels ausgeführt, stieg 1990/91 die Zustimmung zu den elementaren marktwirtschaftlichen Prinzipien deutlich an, um anschließend wieder auf dasjenige Niveau herabzusinken, das vor der Wiedervereinigung im langfristigen Durchschnitt vorherrschte. Vor diesem Hintergrund scheint plausibel, daß - mit stärkerer Amplitude- auch im Osten der Republik marktwirtschaftliche Orientierungen wiedervereinigungsbedingt eine temporäre Hochkonjunktur erlebten und sich anschließend wieder auf ihr langfristiges „Normalmaß" einpendelten. Dies gilt insbesondere angesichts der Tatsache, daß die Ostdeutschen erst nach 1990 Erfahrungen mit der Marktwirtschaft, insbesondere aber ihren Schattenseiten machen konnten. Bereits im Jahr 1992 weist die ostdeutsche Bevölkerung auf der Skala „Akzeptanz marktwirtschaftlicher Prinzipien" einen signifikant niedrigeren Wert auf als die westdeutsche Bevölkerung.

Gegen die Annahme eines Wertkollapses spricht außerdem der Befund, daß die Zustimmung zur staatlichen Absicherung existentieller Risiken (Item 8), die im Jahr 1990 im Osten nur um 0,3 Skalenpunkte höher lag als im Westen, bereits 1991 enorm zunimmt, so daß die Differenz zwischen West und Ost auf 0,9 Skalenpunkte anwächst und in der Folgezeit in etwa stabil bleibt. Auch hier scheinen mit etwas zeitlichem Abstand von der Wiedervereinigung längerfristig erworbene wohlfahrtsstaatliche Orientierungen wieder an die Oberfläche zu gelangen, die mit der Konservierungshypothese nicht erklärt werden können.

 

 

Tab. 1: Die Entwicklung gesellschaftspolitischer Wertorientierungen in der Bundesrepublik Deutschland

(BRD-West 1984-1995, BRD-Ost 1990-1995)

 

 

1984

1985

1986

1987

1988

1989

1990

1991

1992

1993

1995

Niedrige Akzeptanz der marktwirtschftl. Ordnung (3)

West

14,7

14,6

14,5

14,5

14,4

14,9

15,7

15,6

15,3

14,9

14,9

Hohe Akzeptanz der marktwirtschftl. Ordnung (21)

Ost

-

-

-

-

-

-

17,0

15,6

14,8

14,8

14,1

1. Mindestlebensstandard sichern (1) vs.

West

4,8

4,8

4,7

4,7

4,6

4,8

5,0

4,9

4,9

4,8

4,8

Lebensstandard leistungsabhängig (7)

Ost

-

-

-

-

-

-

5,6

5,0

4,8

4,7

4,5

2. Planwirtschaft (1) vs.

West

5,1

5,0

5,0

5,0

5,0

5,2

5,5

5,4

5,3

5,1

5,1

Marktwirtschaft (7)

Ost

-

-

-

-

-

-

5,8

5,4

5,0

4,9

4,7

3. Egalitäre Einkommensverteilung (1) vs.

West

4,8

4,8

4,8

4,8

4,8

4,9

5,2

5,2

5,1

5,0

5,0

Leistung belohnen (7)

Ost

-

-

-

-

-

-

5,6

5,2

5,0

5,1

4,9

4. Wirtschaftswachstum fördern (1) vs.

West

2,9

2,9

2,8

2,7

2,7

2,9

2,7

2,8

2,7

2,8

2,6

Wirtschaftswachstum begrenzen (7)

Ost

-

-

-

-

-

-

1,8

2,0

2,2

2,1

2,1

5. möglichst wenig Polizei (1) vs.

West

3,6

3,6

3,6

3,7

3,7

3,8

3,7

3,9

4,2

4,2

4,3

starke Polizei (7)

Ost

-

-

-

-

-

-

4,0

5,0

5,1

5,3

4,9

6. Wirtschaftswachstum vor Umweltschutz (1) vs.

West

4,9

4,8

4,7

4,8

5,0

5,1

5,1

5,1

5,0

4,8

4,7

Umweltschutz vor Wirtschaftswachstum (7)

Ost

-

-

-

-

-

-

5,2

5,1

5,1

5,0

4,7

7. Bürgerbeteiligung (1) vs.

West

3,0

3,1

3,0

3,3

3,1

3,2

3,1

3,1

3,1

3,2

3,0

Elitenherrschaft (7)

Ost

-

-

-

-

-

-

2,4

2,6

2,5

2,4

2,4

8. Private Vorsorge (1) vs.

West

5,3

5,2

5,0

5,0

5,3

5,1

5,1

4,9

5,0

5,0

4,9

Staatliche Vorsorge (7)

Ost

-

-

-

-

-

-

5,4

5,8

5,8

5,8

5,9

9. Technik-Pessimismus (1) vs.

West

4,5

4,4

4,3

4,3

4,2

4,4

4,4

4,4

4,4

4,4

4,5

Technik-Optimismus (7)

Ost

-

-

-

-

-

-

5,7

5,5

5,4

5,4

5,3

N

West

2087

1840

2015

2045

2078

2040

2093

1571

1546

1534

1514

 

Ost

-

-

-

-

-

-

799

1084

1171

1043

1043

 

Datenbasis: IPOS-Studien „Aktuelle Fragen der Innenpolitik" 1984-1995

Anmerkung: Schraffiert hinterlegte Mittelwerte unterscheiden sich signifikant auf dem .01-Niveau

4.2 Ein multivariates Modell der Determinanten
gesellschaftlicher Wertorientierungen

Nachdem im vorangegangenen Abschnitt einige empirische Evidenz für die Gültigkeit der Sozialisationshypothese geltend gemacht werden konnte, soll im folgenden mit Hilfe eines multivariaten Modells untersucht werden, in welchen Bereichen auch heute noch sozialisationsbedingte Unterschiede in den Werthaushalten von Ost- und Westdeutschen bestehen. Diese Analysen erfolgen auf der Grundlage des für beide Befragungsgebiete und über die Befragungsjahre 1990 bis 1995 hinweg kumulierten IPOS-Datensatzes. Dabei verwenden wir im Rahmen eines multiplen linearen Regressionsmodells zunächst die Skala „Akzeptanz marktwirtschaftlicher Prinzipien" und dann die in ihr nicht enthaltenen Indikatoren als abhängige Variablen und führen als unabhängige Variablen neben der Regionszugehörigkeit (West/Ost) all diejenigen Faktoren ein, von denen vermutet werden kann, daß sie relevante Determinanten gesellschaftspolitischer Wertorientierungen darstellen. Hierdurch werden insbesondere mögliche Kompositionseffekte kontrolliert, d.h. Wertdisparitäten auf der Aggregatebene, die durch eventuell bestehende Unterschiede in der sozialstrukturellen Zusammensetzung der west- und ostdeutschen Bevölkerung resultieren. Diese Einflußfaktoren werden außerdem noch in Interaktion mit der Regionszugehörigkeit getestet, um die Möglichkeit unterschiedlich wirkender Effekte in West und Ost zuzulassen.

Dem beschriebenen Vorgehen liegt folgende Überlegung zugrunde: Sollte unter gleichzeitiger Kontrolle aller anderen möglichen Einflußfaktoren ein eigenständiger signifikanter Effekt der Regionszugehörigkeit nachweisbar sein, so würde dies auf sozialisationsbedingte Wertdifferenzen zwischen West- und Ostdeutschen hindeuten, die nicht nur in bestimmten Bevölkerungssegementen (Hochgebildete, Eliten), sondern gewissermaßen „across the board" bestehen.

Die neben der Regionszugehörigkeit einbezogenen Kontrollvariablen sind die folgenden:

Geschlecht: Es steht zu erwarten, daß sich Männer und Frauen aufgrund unterschiedlicher Sozialisations- und Lebensbedingungen auch in ihren Werthaltungen unterscheiden.

Erwerbsstatus: Wer berufliche Verantwortung trägt, wird möglicherweise andere Vorstellungen von einer wünschenswerten Wirtschaftsordnung haben, als Personen, die außerhalb des Erwerbsprozesses stehen (z.Bsp. Schüler, Studenten, Rentner, Arbeitslose) und insofern mehr kritische Distanz zum Wirtschaftssystem aufweisen.

Formale Bildung: Schulen und Universitäten sind in jeder modernen Gesellschaft zentrale Sozialisationsinstanzen, die formale Schulbildung folglich eine wichtige Determinante gesellschaftlicher Wertorientierungen.

Geburtskohorte und Jahr der Befragung: In der Werteforschung werden mit der Lebenszyklus-, der Perioden- und der Generationenhypothese drei konkurrierende Erklärungen der Entstehung und des Wandels gesellschaftlicher Wertorientierungen diskutiert (vgl. Bürklin/Klein/Ruß 1994). Der empirische Test dieser Hypothesen ist insofern schwierig, als die korrespondierenden Bestimmungsfaktoren Alter, Periode und Kohorte konfundiert sind, d.h. jede der drei Einflußgrößen als Linearkombination aus den beiden anderen darstellbar ist (perfekte Multikollinearität): So läßt sich beispielsweise aus der Kenntnis der Altersgruppenzugehörigkeit und des Erhebungszeitpunktes eindeutig die Kohortenzugehörigkeit ermitteln. Das bedeutet für unser Modell, daß zwei Variablen (konkret: Geburtskohorte und Befragungsjahr) ausreichen, um alle drei möglichen Effekte zu kontrollieren. Zwar ist eine Trennung der drei Einflußfaktoren, insbesondere die Trennung zwischen Kohorten- und Alterseffekten, im Rahmen eines solchen Designs nicht möglich, doch besteht darin auch nicht das Anliegen der vorliegenden Studie.

In das Modell werden außerdem zwei Interaktionsterme eingeführt:

formale Bildung * Regionszugehörigkeit: Dieser Term trägt der Tatsache Rechnung, daß einerseits der Zugang zu höheren Bildungseinrichtungen in Ostdeutschland bis zur Wende an ideologisches Wohlverhalten gekoppelt war, andererseits in diesen Einrichtungen der künftigen sozialistischen Elite auch sehr gezielt entsprechende Wertvorstellungen vermittelt wurden. Schulen und insbesondere Hochschulen dienten im Osten folglich sowohl der Selektion als auch der ideologischen Formung. Deshalb ist es sinnvoll zu untersuchen, ob hohe formale Bildung im Osten einen anderen Effekt hat als im Westen.

Befragungsjahr * Regionszugehörigkeit: Durch diesen Interaktionsterm sollen vereinigungsbedingte „Wertturbulenzen" und Orientierungsprobleme in Ostdeutschland modelliert werden, von denen aufgrund unserer bisherigen Überlegungen erwartet werden kann, daß sie stärker ausfallen als diejenigen in Westdeutschland.

Die drei logisch möglichen und sachlich gebotenen Interaktionsterme Geschlecht*Regionszugehörigkeit, Geburtskohorte*Regionszugehörigkeit sowie Erwerbsstatus*Regionszugehörigkeit wurden zunächst in mehrere hier nicht berichteten Modelle einbezogen. Da sich aber in allen Fällen keine relevanten Effekte ergaben, wurden sie im endgültigen Modell nicht berücksichtigt, um die bei der Schätzung von Interaktionstermen zwangsläufig auftretenden Multikollinearitätsprobleme in vertretbarem Rahmen zu halten.

Die Ergebnisse des beschriebenen Regressionsmodells sind in Tabelle 2 dokumentiert. Da die Akzeptanz marktwirtschaftlicher Prinzipien aufgrund ihrer besonderen Bedeutung für die weitere Entwicklung der politischen Kultur des vereinten Deutschland im Zentrum unserer bisherigen Überlegungen stand, soll sie auch hier an erster Stelle diskutiert werden. Als wichtigstes Ergebnis ist festzuhalten, daß auch bei Kontrolle von Befragungsjahr, Bildung, Geschlecht und Generationszugehörigkeit Ostdeutsche weit weniger marktorientiert sind als ihre westdeutschen Mitbürger: Die Regionszugehörigkeit erweist sich als der erklärungskräftigste Einflußfaktor (Beta-Koeffizient -0.21). Dieser Befund wird in beiden Teilgesellschaften durch einen deutlich ausgeprägten Generationeneffekt modifiziert. Die Angehörigen der mittleren Jahrgänge (1920-1950) weisen auf der Marktwirtschaftsskala signifkant höhere Werte auf als die Referenzgruppe der 1970 und später Geborenen. Dieser Effekt tritt nicht nur hier, sondern auch bei den Items 4 bis 8 auf und zeigt in allen Fällen einen kurvilinearen Verlauf (betroffen sind jeweils vor allem die mittleren Altersgruppen). Es erscheint daher naheliegend, ihn als einen Lebenszykluseffekt aufzufassen. Da Alters-, Kohorten- und Periodeneffekte jedoch, wie oben ausgeführt, konfundiert sind, ist eine differenziertere Analyse nicht möglich.

Darüber hinaus zeigt sich, daß Frauen marktwirtschaftliche Prinzipien in geringerem Umfang akzeptieren als Männer, was als Hinweis auf geschlechtsspezifische Sozialisationsunterschiede gelten kann, während die Teilnahme am Erwerbsleben einen umgekehrten Effekt aufweist. Von der formalen Bildung geht ein schwacher positiver Effekt auf die Akzeptanz marktwirtschaftlicher Prinzipien aus. Der Interaktionsterm aus Bildung und Regionszugehörigkeit weist ebenfalls einen positiven Effekt auf. Dieser Befund überrascht: Der landläufigen Erwartung, daß die Bildungseinrichtungen der früheren DDR regelrechte Kaderschmieden waren, die das Wertesystem ihrer Absolventen bis heute formen konnten, hätte ein deutlich negativer Effektkoeffizient entsprochen. Der von uns gefundene positive Koeffizient jedoch muß dahingehend interpretiert werden, daß der gesamtdeutsch wirkende positive Effekt formaler Bildung im Osten der Republik nochmals überhöht wird. Deutlich zu erkennen sind über diese Ergebnisse hinaus die Effekte des Befragungsjahrs und vor allem deren Überhöhung durch die Interaktion Befragungsjahr 1990 *Ost, die als Beleg für die von uns eingangs diskutierte Marktwirtschaftseuphorie im Gefolge der „Wende" von 1990 gelten können. Zusammenfassend ist festzuhalten, daß die Ostdeutschen der Marktwirtschaft deutlich ablehnender gegenüberstehen als die Westdeutschen, wobei formale Bildung, Kohortenzugehörigkeit und die zeitliche Nähe zu Wende und Wiedervereinigung den Befund modifizieren.

Die Frage wie sich die Bürger zur staatlichen Vorsorge gegen existentielle Risiken stellen, ist für den gesellschaftlichen Konsens von ähnlicher Bedeutung wie die Bewertung der marktwirtschaftlichen Ordnungsprinzipien und mag in unserem Argumentationszusammenhang außerdem als Annäherung an den Wert der sozialen Gleichheit gelten, der ansonsten leider nicht unabhängig vom Leistungsprinzip erhoben wird, so daß die oben angesprochene Synthese „preußischer" und sozialistischer Werthaltungen nicht näher untersucht werden kann. Die Sozialisationshypothese ließe bei diesem Item einen signifikanten Regionseffekt erwarten. Tabelle 2 zeigt, daß in Übereinstimmung mit unseren theoretischen Erwartungen der stärkste Effekt von der Regionszugehörigkeit ausgeht, Ostdeutsche sich also ein staatliches Versorgungsmodell wünschen. Für das Jahr 1990 tritt im Osten ein schwacher negativer Effekt auf, der als (kurzfristige) Anpassung an westliche Erwartungen verstanden werden kann. Der schwache Bildungseffekt dürfte sich aus der Berufs- und Einkommensstruktur erklären; Geschlecht und Erwerbstätigkeit spielen praktisch keine Rolle, auch die Generationeneffekte sind nur schwach ausgeprägt, folgen aber dem bereits von der Marktwirschaftsskala bekannten kurvilinearen Muster. Hinsichtlich der Absicherung gegen existentielle Risiken bestehen mithin zwischen Ost und West tatsächlich gravierenden Unterschiede, was der oben angesprochene erhebliche Differenz der Durchschnittswerte in Tabelle 1 entspricht.

Die Bewertung des Wirtschaftswachstums variiert vor allem mit der Regionszugehörigkeit. Die Ostdeutschen stehen damit dem Wirtschaftswachstum deutlich positiver gegenüber als die Westdeutschen, zugleich kommte der aus dem Westen bekannte wachstumskritische Effekt der formalen Bildung auch im Osten voll zum Tragen (Koeffizient des Interaktionseffektes nicht signifikant), während die Generationseffekte der theoretischen Erwartung folgen.

Bei Item 6, bei dem die Befragten explizit zwischen Wirtschaftswachstum und Umweltschutz abwägen müssen, zeigte bereits ein Blick auf die Mittelwerte in Tabelle 1, daß die früheren DDR-Bürger sich hier kaum von den Westdeutschen unterscheiden. Dementsprechend hat die Gebietszugehörigkeit hier keinen signifkanten Effekt. Neben der formalen Bildung und der Generationszugehörigkeit, die beide in die jeweils zu erwartende Richtung wirken, haben vor allem die Befragungsjahre 1990 und 1991 einen positiven Effekt, was dafür spricht, daß die Messung von der politischen Agenda beeinflußt wurde.

Nur vordergründig überraschend ist das Ergebnis daß die Ostdeutschen in ihren gesellschaftlichen Wertorientierungen stärker partizipationsorientiert sind als die Westdeutschen (Item7). Dies zeigt sich in der Differenz der Mittelwerte und der absoluten Dominanz des Gebietseffekts. Offensichtlich haben vierzig Jahre sozialisatischer Erziehungsdiktatur und der sich daran anschließende Umsturz des Systems hier als Wertewandelsgenerator gewirkt. Klar zu erkennen ist auch, daß ältere Menschen eher zur Elitenherrschaft tendieren, während Geschlecht und Erwerbstätigkeit keine Rolle spielen.

Hinsichtlich des Items starke Polizei weisen Ost- und Westdeutsche deutliche Unterschiede auf, was sich in dem starken Effekt der Regionszugehörigkeit widerspiegelt: Aus zahlreichen Umfragen ist bekannt, daß für viele Bürger der neuen Länder mit der Ablösung des restriktiven DDR-Systems ein Gefühl der Verunsicherung einherging, das diesen Effekt erklären könnte. In beiden Gesellschaften zeigt sich außerdem ein positiver Effekt für die zwischen 1900 und 1940 Geborenen, der entweder durch eine autoritäre Sozialisation in der Jugend oder aber durch die spezifischen Bedrohungsgefühle älterer Menschen erklärt werden kann. Bemerkenswert ist außerdem der negative Effekt für die Jahre 1990/91, der im Gebiet der neuen Länder für das Jahr 1990 noch durch eine Interaktion verstärkt wird. Beides kann unseres Erachtens plausibel auf die Überwindung des Polizei- und Stasi-Staates DDR und die daraus resultierende Abneigung gegen eine übermäßige Verstärkung der Sicherheitskräfte zurückgeführt werden.

Erhebliche Unterschiede zwischen Ost und West bestehen nach den Differenzen der Durchschnittswerte in Tabelle 1 schließlich bei dem Konstrukt Technik-Optimismus. Während die Westdeutschen sich seit Mitte der 80iger Jahre fast konstant bei einem Skalenwert von ca. 4,4 bewegen, lag der ostdeutsche Durchschnittswert zum Zeitpunkt der Vereinigung rund 1,4 Skalenpunkte höher und hat sich seitdem dem westlichen Niveau nur langsam angenähert. Tabelle 2 zeigt, daß der Gebietseffekt bei diesem Item absolut dominierend wirkt, modifiziert durch den Effekt des Geschlechts. Jenes Phänomen, das im angelsächsischen Sprachraum zuweilen als „German Angst" bezeichnet wird, scheint sich also auf die alte Bundesrepublik zu beschränken. Wie auch immer man diesen Befund erklären will:
Hinsichtlich der Bewertung des technischen Fortschritts unterscheiden sich Ost- und Westdeutsche deutlich. Nicht umsonst weist dieses Modell mit einer Varianzaufklärung von immerhin 10% die höchste Erklärungskraft aller hier diskutierten Regressionsgleichungen auf. Die politisch-kulturelle Kluft zwischen Ost und West scheint somit gerade an dieser Stelle unvermutet tief zu sein.

 

Tab. 2: Determinanten gesellschaftspolitischer Wertorientierungen in der Bundesrepublik Deutschland 1990-1995

 

Item 1-3

Akzeptanz marktwirt-schaftlicher
Prinzipien

Item 4:

Wirtschafts-wachstum
begrenzen

Item 5:

starke
Polizei

Item 6:

Umweltschutz vor Wirtschafts-wachstum

Item 7:

Eliten-
herrschaft

Item 8:

Staatliche
Vorsorge

Item 9:

Technik-Optimismus

 

beta

beta

beta

beta

beta

beta

beta

Jahr (Referenzkategorie: 1995)              

1990

.08** .03* -.12** .10** -.- .05** -.03*

1991

.07** .03* -.08** .09** -.- -.- -.-

1992
1993

.04*
-.-
-.-
.05**
-.-
-.04*
.07**
.03*
-.-
.03*
-.-
-.-
-.-
-.03*
Interaktion Periode*Region (Referenzkategorie: 1995*Ost)              

1990 * Ost

.13** -.06** -.05** -.- -.- -.09** .07**

1991 * Ost

.05** .04* .07** -.- -.- -.- .05**

1992 * Ost
1993 * Ost

-.-
.04**
-.-
-.04*
.04*
.07**
-.-
-.-
-.-
-.-
-.-
-.-
.04*
.04**
Bildung .05** .07** -.09** .07** -.03* -.05** -.-
Bildung * Region .12** -.- -.- -.- -.- -.- -.-
Geburtskohorte (Referenzkategorie: 1970-)              

1900-1910

.04** -.- .03* -.- .03* -.- -.-

1910-1920

.08** -.03* .06** -.06** .05** -.05** -.-

1920-1930

.15** -.08** .09** -.09** .07** -.08** -.-

1930-1940

.11** -.07** .06** -.07** .06** -.07** .04*

1940-1950

.12** -.07** -.- -.06** -.- -.06** -.-

1950-1960

.08** -.06** -.- -.04* -.- -.06** -.-

1960-1970

-.- -.- -.- -.- -.- -.04* -.-
Erwerbstätigkeit .07** -.04** -.- -.04** -.- -.04** .02*
Geschlecht -.07** .04** -.- .03** -.- .03** -.08**
Region: Ost -.21** -.17** .17** -.- -.17** .31** .18**

R2

.06** .06** .09** .02** .04** .06** .10**

ausgewiesen sind nur signifikant von null verschiedene Koeffizienten * p<.05 ** p<.01

5. Zusammenfassung und Schlußfolgerungen

Das Anliegen der vorliegenden Studie bestand nicht darin, die umfassenden Theorien des Wertewandels, wie sie von Inglehart, Flanagan oder Klages formuliert wurden, auf die besondere Situation in den neuen Ländern anzuwenden oder gar eine eigenständige Theorie des Wertewandels in Ostdeutschland zu entwickeln. Vielmehr ging es uns darum, die in der Literatur vorgefundenen konkurrierenden Hypothesen in knapper Form vorzustellen und empirisch zu testen. Eine intensivere theoretische Auseinandersetzung mit den vorgestellten Ansätzen war aufgrund der konkreten Aufgabenstellung und des begrenzten Raums nicht zu leisten.

Die empirische Prüfung der vorgestellten Hypothesen ist dabei in mancherlei Hinsicht problembehaftet: Erstens ist die der Analyse zugrundeliegende Zeitreihe, die für Ostdeutschland nicht vor das Basisjahr 1990 zurückreicht, zu kurz, um Wertewandelsprozesse hinreichend beschreiben, geschweige denn erklären zu können. Die Analyse bleibt daher an zentraler Stelle auf theoretische Plausibilitätserwägungen angewiesen, die strengen methodischen Maßstäben natürlich nicht genügen können. Zweitens läßt das verwendete Erhebungsinstrument aufgrund seiner bipolaren Gegenüberstellung idealtypischer Konzepte keine „mentalen Inkonsistenzen" bei den Befragten zu, die aber für die ostdeutsche Bevölkerung mit einiger Berechtigung vermutet werden können. Drittens schließlich ist die Herstellung der inneren Einheit Deutschlands ein längerfristiger, gegenwärtiger noch andauernder Prozeß, der derzeit nur in Form einer Zwischenbilanz analysiert werden kann.

Vor dem Hintergrund dieser Restriktionen sind unserer Befunde zu beurteilen, die sich in folgenden Punkten zusammenfassen lassen:

Die Kongruenzhypothese wird durch die Daten nicht gedeckt, da bereits 1990 bei einigen Wertorientierungen erhebliche Unterschiede zwischen beiden Teilgesellschaften bestehen, die sich im Zeitverlauf teilweise noch verstärken.

Gegen die Konservierungshypothese spricht vor allem die Tatsache, daß die Ostdeutschen schon 1990 den „modernen" Wert Partizipation deutlich höher bewerten als die Westdeutschen. Darüber hinaus weisen sie deutlich stärkere sozialstaatliche Orientierungen auf. Bei der Bewertung des Umweltschutzes liegen West- und Ostdeutsche gleichauf. Vor diesem Hintergrund scheint es wenig plausibel, die nach 1990 zu beobachtende Entwicklung weg von den marktwirtschaftlichen Werten als „nachholenden Wertewandel" aufzufassen und damit die Konservierungshypothese durch die Einführung einer Hilfsannahme zu retten.

Unsere Ergebnisse stützen in ihrer Gesamtheit vielmehr die Sozialisationshypothese: Selbst wenn man das Befragungsjahr und einige wichtige soziodemographische Faktoren kontrolliert, bestehen zwischen Ost- und Westdeutschen bei fast allen untersuchten Wertorientierungen auch heute noch deutliche Unterschiede. Insbesondere weist die ostdeutsche Bevölkerung eine signifikant geringere Akzeptanz marktwirtschaftlicher Prinzipien auf und besitzt deutliche Präferenzen für eine primär staatliche Daseinsfürsorge. Darüber hinaus sind die Ostdeutschen deutlich stärker partizipativ orientiert als die westdeutsche Bevölkerung. Gleichzeitig aber sind sie auch weniger wachstumskritisch, dem technischen Fortschritt gegenüber positiver eingestellt und wünschen sich in deutlich höherem Maße eine starke Polizei. Diese Differenzen können sinnvoll nur durch die unterschiedlichen Sozialisationsbedingungen in West und Ost erklärt werden.

Diese Befunde sind nicht ohne politische Brisanz: Die momentane Auseinandersetzung um den Umbau des bundesdeutschen Sozialstaates muß vor dem Hintergrund des ostdeutschen Wunsches nach primär staatlicher Daseinsfürsorge zwangsläufig an Schärfe gewinnen. Darüber hinaus könnte sich die geringere Akzeptanz marktwirtschaftlicher Prinzipien in Ostdeutschland angesichts der Globalisierung der Märkte und der damit verbundenen Verschärfung des internationalen Standortwettbewerbs in Zukunft als durchaus hemmend für die weitere wirtschaftliche Entwicklung erweisen.

 

 

 

 

 

Literatur

 

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