Wissenschaftstheoretische Grundbegriffe

Meta-Theorie

einfache Theorien (Theorien 1. Ordnung) beziehen sich auf die Wirklichkeit

Wissenschaftstheorie ist eine Meta-Theorie, d.h., eine Theorie 2. Ordnung, die sich auf substantielle Theorien bezieht

Wissenschaft

System von möglichst allgemeinen Aussagen über die Wirklichkeit, die systematisch geordnet und intersubjektiv überprüfbar sind

Ziel der Wissenschaft ist es, auf Grund dieser Aussagen

Wirklichkeit zu erklären

Prognosen über zukünftige Ereignisse zu erstellen

Begriffe

konstituieren wissenschaftliche Sätze

logische Begriffe: bezeichnen keine Objekte der Realität, sind ohne Bezug auf die Wirklichkeit für jeden verständlich. Beispiele: Konjunktionen wie "und", "oder" , "wenn", Präpositionen wie "in", "nach" etc.

empirische Begriffe: beziehen sich auf die Realität. Beispiele: "Staat", "Partei", "politisches Verhalten". Empirische Begriffe müssen definiert werden, damit sie in wissenschaftlichen Sätzen sinnvoll verwendet werden können

Ansonsten ist ihre Bedeutung (und damit die Bedeutung der Sätze, die sie konstituieren) unklar. Es kann zwischen der intensionalen Bedeutung eines Begriffs (Merkmale, die in der Definition genannt werden) und der extensionalen Bedeutung (Menge der Personen, Gegenstände, Handlungen, die diesem Begriff in der Realität entsprechen) unterschieden werden.

Definitionen

Für uns spielen nur Nominaldefinitionen eine Rolle, in denen ein Begriff durch einen oder mehrere andere Begriffe definiert wird. Beispiel: Rechtsextremismus sei definiert als das gemeinsame Vorliegen von extremem Nationalstolz, Ausländerfeindlichkeit und Autoritarismus. Diese Begriffe müßten ihrerseits wieder definiert werden usf. ® "definitorischer Regreß". Grundlegende Begriffe müssen deshalb als bekannt vorausgesetzt werden. Nominaldefinitionen sind "tautologische Transformationen". Sie sorgen für begriffliche Klarheit und sind ein Mittel der Sprachökonomie, liefern aber keinerlei Erkenntnisse über die Wirklichkeit.

Realdefinitionen, die demgegenüber beanspruchen, etwas über das "Wesen" einer Sache auszusagen, sind für die empirischen Wissenschaften unbrauchbar und gehören in den Bereich der Metaphysik.

Sätze

Normative Sätze treffen Aussagen über ein Sollen. Sie beschreiben nicht die Realität, sondern fordern eine bestimmte Realität ("Stehlen ist verboten", "Verfassungsfeinde dürfen nicht Beamte werden"). Normative Sätze können Gegenstand und Ursache, nicht aber Ergebnis empirischer Forschung sein ® Werturteilsproblematik. Normative Sätze können nicht wahr oder falsch sein. Man kann lediglich feststellen, ob sie in der Realität beachtet werden oder nicht.

Empirische Sätze hingegen treffen Aussagen über die Realität und können dementsprechend wahr oder falsch sein. Wenn sie so formuliert sind, daß sie an der Wirklichkeit auf ihre Gültigkeit überprüft werden können ("Im März 1996 gab es in der Bundesrepublik 4 Millionen Arbeitslose"), sind sie falsifizierbar, d.h. im Rahmen einer empirischen Untersuchung kann sich herausstellen, daß ein solcher Satz nicht zutrifft. Empirische Sätze, die nicht oder nur schwer zu falsifizieren sind, gelten in der empirischen Forschung als unwissenschaftlich ("Wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben").

Über die Gültigkeit logischer Sätze (sie werden auch als analytische Sätze bezeichnet) kann hingegen unabhängig von aller Erfahrung entschieden werden. Sie spielen vor allem in der Logik und in der Mathematik eine Rolle, können sich aber auch aus Nominaldefinitionen bzw. aus komplexeren politikwissenschaftlichen Theorien ergeben. Beispiele "Beamte beziehen Gehalt" (der Status des Beamten ist u.a. durch das Gehalt, das er für seine Tätigkeit bezieht, definiert).

Einteilung der empirischen Sätze

Singuläre Sätze behaupten etwas über ein Objekt. Sie sind rein deskriptiv und tragen wenig zum wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn bei ("Der Politikwissenschaflter X liest regelmäßig die PVS"). Ihrer Form nach sind sie Existenzsätze ("Es gibt einen Politikwissenschaftler, für den gilt: er liest regelmäßig die PVS").

Allsätze hingegen sagen etwas über eine ganze Klasse von Objekten aus ("Alle Politikwissenschaftler lesen die PVS"). Allsätze sind ihrer Form nach wissenschaftliche Gesetze. Das Aufstellen solcher Gesetzesaussagen ist ein wichtiges Ziel der Wissenschaft.

Beurteilung wissenschaftlicher Sätze

Gültigkeit:

"apriorische Gültigkeit" (apriorisch = wahr bzw. falsch unabhängig von der Erfahrung) – wissenschaftliche Sätze bzw. Systeme von wissenschaftlichen Sätzen müssen logisch widerspruchsfrei sein. Eine Theorie darf keine Aussagen treffen, die einander widersprechen (eine Extremismustheorie, aus der sich ableiten läßt, daß Männer ausländerfeindlicher sind als Frauen und daß Frauen ausländerfeindlicher sind als Männer, muß unabhängig von aller Empirie zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort falsch sein).

"aposteriorische Gültigkeit": Sätze müssen empirisch wahr sein, d.h. sie dürfen nicht im Widerspruch zur Wirklichkeit stehen.

Überprüfbarkeit: Wissenschaftliche Sätze müssen intersubjektiv überprüfbar sein, d.h. Wissenschaftler müssen deutlich machen, wie sie zu ihren Ergebnissen gekommen sind und anderen Wissenschaftlern die Möglichkeit geben, diese Ergebnisse zu replizieren bzw. zu widerlegen. Konkret heißt das: Zitatstellen belegen, untersuchtes Datenmaterial ausweisen und ggf. zugänglich machen, verwendete statistische Verfahren dokumentieren etc.

Informationsgehalt: Empirische Sätze müssen an der Realität scheitern können (Falsifikation, siehe oben), um informativ zu sein. Je größer die Zahl der Sachverhalte, die einen Satz falsifizieren, desto größer ist auch der Informationsgehalt des Satzes. Umgekehrt haben Sätze, die immer und unter allen Umständen wahr sind (analytische Wahrheiten bzw. Tautologien wie z.B. die Nominaldefinitionen, s.o.) überhaupt keinen Informationsgehalt. Sie sind bestenfalls nützlich.

Variablen

Als Variablen wird die Gesamtheit der verschiedenen Ausprägungen einer Eigenschaft bezeichnet. Dabei sind "Variablen", "Ausprägungen" und "Eigenschaften" Bestandteil der Theorie, die eine Entsprechung in der Realität haben (® sozialwissenschaftliche Meßtheorie).

Typische sozialwissenschaftliche Variablen sind Geschlecht, Alter, Einkommen, politische Einstellungen, politisches Verhalten etc.

Hypothesen, Gesetze, Theorien, Axiome und Modelle

Hypothesen, Theorien und Gesetze machen Aussagen über den Zusammenhang zwischen empirischen und/oder logischen Sachverhalten. Alle drei Begriffe werden häufig synonym verwendet.

Hypothesen behaupten einen Zusammenhang zwischen mindestens zwei Variablen. Hypothesen können eine Vielzahl unterschiedlicher Formen annehmen, z.B.:

Wenn-dann-Hypothesen: "Wenn eine Versuchsperson belohnt wird, steigt ihre Motivation."

Je-desto-Hypothese: "Je höher die Arbeitslosenquote in einer Gesellschaft, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit für das Aufkommen ausländerfeindlicher Parteien."

Unterschiedshypothesen: "Männer und Frauen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Aggressionsbereitschaft."

Hypothesen unterscheiden sich im Grad ihrer Formalisierung. Idealerweise lassen sich Hypothesen in die Form mathematischer Sätze bringen (z.B. Regressionsgleichungen). Statt "Je höher der Katholikenanteil in einem Wahlkreis desto besser das Zweitstimmenergebnis der CDU" heißt es dann "Prozent(CDU)=20%+0.5*Prozent(Katholiken)". Der Informationsgehalt einer solchen formalisierten Hypothese ist ungleich höher (die Zahl der potentiellen Falsifikatoren größer), die Umsetzung in ein statistisches Modell fällt leichter. In der Sozialforschung sind jedoch qualitative Hypothesen die Regel.

Gesetze sind strukturell mit Hypothesen identisch. Meist werden Hypothesen, die sich empirisch "bewährt" haben, als Gesetze bezeichnet. Beispiel: In seinem berühmten Hundeversuch stellte Pawlow zunächst die Hypothese auf, daß sich in einer bestimmten Versuchsanordnung ein Reiz (Futtergabe) durch einen anderen Reiz (Glockenton) ersetzen läßt. Nachdem sich diese Hypothese über Jahrzehnte gut bewährt hat, gilt sie als Gesetz. In den Sozialwissenschaften ist jedoch kein einziges echtes Gesetz bekannt, da praktisch alle sozialwissenschaftlichen Gesetzesaussagen durch Randbedingungen eingeschränkt werden (z.B. beziehen sich Gesetzesaussagen zur Entwicklung der Parteiensysteme nur auf Gesellschaften des westeuropäisch-demokratischen Typs) und keine deterministischen Aussagen, sondern nur Wahrscheinlichkeitsaussagen treffen.

Theorien sind ganze Systeme von relativ allgemeinen wissenschaftlichen Sätzen (miteinander verbundene Gesetzesaussagen), die einen bestimmten Ausschnitt der Realität widerspruchsfrei erklären sollen. Insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Allgemeinheit erscheint es vielen Wissenschaftlern fraglich, ob es in der Sozialwissenschaft überhaupt (noch bzw. schon) echte Theorien gibt (Mangel an echten Gesetzen, siehe oben). Momentan wird die Forschung klar von den Theorien mittlerer Reichweite, die sich nur auf ein bestimmte soziale Phänomene in bestimmten Gesellschaften beziehen, dominiert.

Axiome sind Bestandteil einer jeden Theorie: grundlegende Annahmen, die gewissermaßen das Fundament der Theorie bilden, als "evident" (unmittelbar einsichtig) gelten und nicht mehr in Frage gestellt werden. Axiome werden in sozialwissenschaftlichen Theorien praktisch nie explizit genannt. Ein Axiom wäre beispielsweise die in handlungstheoretischen Ansätzen enthaltene Annahme, daß alle Menschen bestimmte Interessen haben, die sie bewußt oder unbewußt verfolgen.

Sehr unklar ist schließlich der Begriff des Modells, der manchmal als Synonym für Theorie benutzt wird, in der Regel aber eine formale Struktur bezeichnet, die den Kern einer Theorie veranschaulichen soll (z.B. das sogenannte "Trichtermodell" in der sozialpsychologischen Theorie des Wählerverhaltens).

Kausalität und Korrelation

Korrelative Beziehungen zeichnen sich dadurch aus, daß zwei Sachverhalte (z.B. Arbeitslosigkeit und Ausländerfeindlichkeit) gemeinsam auftreten bzw. gemeinsam variieren. Über die Richtung des Zusammenhangs ist damit noch nichts gesagt.

Von einer kausalen Beziehung spricht man darüber hinausgehend wenn

Wenn die Richtung des Zusammenhangs theoretisch begründet wird (abhängige/unabhängige Variable)

und die unabhängige Variable der abhängigen zeitlich vorausgeht

darüber hinaus keine Hintergrund- oder Störvariable im Spiel ist (beispielsweise ein undemokratisches und zugleich ineffizientes Bildungssystem)

und schließlich bei der Messung der Variablen keine systematischen Fehler auftreten.

Erklärungen

Wissenschaftliche Erklärungen weisen eine bestimmte Struktur auf, durch die sie sich von den "Erklärungen" (in einem überfüllten Stadtbus bleibt der Platz neben einem Schwarzafrikaner frei. Wir "erklären" das durch den latenten Rassismus der Mainzer) des Alltags unterscheiden. Sie bestehen

aus einem Gesetz (Allsatz, siehe oben)

einer Randbedingung (Antezedenz)

einer logisch korrekten Deduktion auf ein zu erklärendes Phänomen.

Erklärungen dieses Typs werden als D-N- (deduktiv-nomologische) oder H-O-Erklärungen (nach den Wissenschaftstheoretikern Hempel und Oppenheim) bezeichnet.

Explanans (Prämissen)	Gesetz	Wenn Konkurrenz, dann Ausländerfeindlichkeit	Alle Rotdrosseln wandern	In säkularisierten Ländern ist die Scheidungsrate hoch
	Randbedingung	In Gesellschaft X besteht Konkurrenz	Vogel X ist eine Rotdrossel	BRD ist säkularisiert
Explanandum (Konklusion)	Phänomen	In Gesellschaft X besteht Ausländerfeindlichkeit	Vogel X wandert	Scheidungsrate in BRD ist hoch

Die Struktur der Deduktion ist asymmetrisch: Aus dem Vorliegen von Gesetz und Randbedingung kann auf das Vorliegen der Konklusion geschlossen werden, nicht aber umgekehrt von der Konklusion auf die Prämissen. Beispielsweise kann es für das Wanderungsverhalten des Vogels X auch alternative Erklärungen geben: Möglicherweise handelt es sich um einen anderen Zugvogel.

Voraussetzung für eine adäquate Erklärung sind:

Das Explanandum muß logisch korrekt aus dem Explanans abgeleitet werden.

Das Explanans muß mindestens eine Gesetzesaussage enthalten.

Das Explanans muß empirischen Gehalt besitzen.

Die Sätze, aus denen das Explanans besteht, müssen wahr sein bzw. sich bewährt haben.

Gesetze werden ihrerseits aus Gesetzen erklärt.

Die "obersten" Gesetze ergeben sich aus den Axiomen und Definitionen der Theorie (siehe oben)

Keine wissenschaftliche Erklärung liefern die sogenannten "dispositionellen Motiverklärungen", wie sie z.B. im Politikteil von Magazinen und Tageszeitungen häufig zu finden sind. Dabei wird (nachträglich) einer Person oder Institution, die in einer bestimmten Situation ein bestimmtes Verhalten gezeigt hat, unterstellt, sie habe eine bestimmte (verborgene) Handlungsdisposition besessen, aus der sich in der gegebenen Situation ein bestimmtes Verhalten mit Notwendigkeit ergeben mußte. Hier handelt es sich um eine "ad-hoc-Hypothese",

die zudem noch mit dem Manko einer weder beobachtbaren noch rekonstruierbaren Prämisse belastet ist.

Prognosen

unterscheiden sich strukturell kaum von Erklärungen: Bei Erklärungen werden die Prämissen gesucht, bei Prognosen die Konklusion.